Armutsforschung bei Nomos

24.01.2022

Armutsforschung bei Nomos

Autor Prof. Dr. Kai Marquardsen

Im Gespräch mit Prof. Dr. Kai Marquardsen

Prof. Dr. Kai Marquardsen gibt im Nomos Verlag das Handbuch „Armutsforschung“ heraus, welches auf alte und neue Herausforderungen durch Armut eingeht und kritisch aktuelle Entwicklungen und Erscheinungsformen beleuchtet. Praktiker:innen, Studierenden und Wissenschaftler:innen aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen dient es als zuverlässiges Nachschlagewerk.

Weshalb sollte man sich gerade derzeit mit den Themen „soziale Ungleichheit“ und „Armut“ befassen?

Die Corona-Pandemie hat soziale Ungleichheit wie unter einem Brennglas offengelegt. Vor allem Menschen in unsicheren Erwerbslagen wie Mini-Jobs oder Solo-Selbstständigkeit waren von Job- und Einkommensverlust bedroht. Wer im Einzelhandel oder im Bereich personennaher Dienstleistungen arbeitet, war und ist zugleich einer stärkeren gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt. Dasselbe gilt für Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben. Gleichzeitig hat sich beim Homeschooling einmal mehr gezeigt, dass der Bildungserfolg der Kinder stark von den Ressourcen der Eltern wie Zeit, eigene Bildung oder Geld für Unterstützung abhängt. Die ungleichen Chancen und Risiken in der Pandemie sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Das Leben in oder am Rande von Armut ist generell mit vielfältigen Benachteiligungen verbunden. Es kommt darauf an, die zugrunde liegenden Ursachen und Mechanismen sichtbar zu machen und kritisch zu hinterfragen. Das ist auch eine Aufgabe von Armutsforschung.

Ihr Handbuch für Wissenschaft und Praxis ist interdisziplinär ausgerichtet. Welche Perspektiven müssen eingenommen werden, um „Armut“ erfassen und angehen zu können?

Ansatzpunkt der Soziologie ist es, Armut als soziales Problem zu beschreiben, zu erklären und kritisch zu hinterfragen. Soziale Arbeit geht weiter, indem sie fragt, was getan werden muss, um soziale Probleme zu lösen. Die Analyse der Strukturen, Prozesse und Inhalte der politischen Bearbeitung von Armut sind Aufgabe einer politikwissenschaftlichen Perspektive. Eine wirtschaftswissenschaftliche Sicht auf Armut, die nicht nur die Mikroebene individuellen Handelns in den Blick rückt, bildet auch dessen soziale Einbettung ab. Aus philosophischer Perspektive ließe sich hier die Frage nach einer guten und gerechten Gesellschaft anschließen. Psychologie kann erklären, wie Armutserfahrungen individuell verarbeitet werden. Und aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive lassen sich gesundheitliche Folgen von Armut sowie präventive und kurative Maßnahmen in den Blick rücken. Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht abschließend. Wichtig ist nicht zuletzt, den Blick systematisch für Perspektiven aus der Praxis zu öffnen.

Wem gibt Ihr Buch konkrete praktische Hilfestellung und wo/wie kann diese beispielsweise eingesetzt werden?

Für Praxis und Politik bildet das Buch eine Wissensgrundlage und Orientierungshilfe für fachlich begründete Entscheidungen. Die Frage nach Herausforderungen für die Praxis bildete eine Leitfrage für alle Beiträge. Darüber hinaus bietet das Buch fundierte Einblicke in die Praxis in unterschiedlichen Handlungsfeldern. Das Buch erhebt damit den Anspruch, einen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis zu ermöglichen. Selbstverständlich gilt es aber auch der wissenschaftlichen Verständigung, indem es eine Momentaufnahme des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses über Armut schafft, die bewusst disziplinäre Grenzen überschreitet. Dabei bildet das Buch selbstverständlich nur einen vorläufigen Wissenstand ab und soll zu weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Armut anregen. Indem die Beiträge einen Überblick zum Kenntnisstand in ihrem jeweiligen Themenfeld geben, eignen sie sich schließlich auch als Grundlagentexte in der Hochschullehre.