Quo vadis, Demokratie?
Populismus in Zeiten der Krise

13.05.2025

Quo vadis, Demokratie?
Populismus in Zeiten der Krise

In einer Zeit zunehmender politischer Spannungen, wachsender Polarisierung und globaler Krisen stellt sich die Frage, wie widerstandsfähig unsere liberalen Demokratien noch sind. Populistische Bewegungen gewinnen an Einfluss – nicht nur als Protest gegen etablierte Eliten, sondern als Symptom tiefer liegender gesellschaftlicher und institutioneller Umbrüche. In unserem aktuellen Beitrag analysiert der Rechtsphilosoph Prof. Dr. Norbert Campagna, ob wir es mit einer zyklischen Entwicklung oder einer fundamentalen Krise der liberalen Ordnung zu tun haben. Er zeigt auf, welche Rolle Souveränität, Identität und ökonomische Macht in der Attraktivität populistischer Narrative spielen – und wie Demokratie sich behaupten kann, ohne ihre eigenen Prinzipien zu verraten.

Populismus in Zeiten der Krise : Gefahr für den Staat oder Symptom seiner Schwäche?

In vielen Ländern gewinnen rechtspopulistische Parteien an Einfluss. Sehen wir hier eine zyklische Entwicklung oder eine tiefere Krise der liberalen Ordnung?

Solange der liberal-demokratische Rechtsstaat, wie er sich in den westeuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hatte, den Menschen materiellen Wohlstand, individuelle und kollektive Sicherheit und eine Art von kollektivem Identitätsgefühl, beruhend auf einer gemeinsamen Kultur – wenngleich es kleinere Varianten von dieser gab – garantierte, hatten populistische Parteien – ob von rechts oder von links – kaum Zulauf. Das hat sich aber seit etwa einem Vierteljahrhundert geändert. Immer mehr Menschen fallen auch bei uns in die Armut, die Kriminalität nimmt immer brutalere Formen an, der Dritte Weltkrieg ist wieder in aller Munde, und das kollektive Identitätsgefühl ist zum Identitätsgefühl einer Gruppe eines nach seiner Identität suchenden Kollektivs geworden, in welchem jede Gruppe ihre Identität anerkannt sehen will. Hinzu kommt die Unfähigkeit der sogenannten traditionellen Parteien, den Menschen wieder Hoffnung zu geben. Das alles hat das Aufkommen populistischer Parteien begünstigt und es stellt sich die Frage, ob der liberal-demokratische Rechtsstaat einen Rahmen darstellt, innerhalb dessen die eben genannten Probleme gelöst werden. Will man die Armut wirksam bekämpfen, so wird man Maßnahmen ergreifen müssen, die der Doxa des Wirtschaftsliberalismus widersprechen; will man die Kriminalität wirksam bekämpfen, so wird man Maßnahmen ergreifen müssen, die manchmal in Konflikt mit Elementen der Doxa des Rechteliberalismus treten; und will man wieder eine Art von kollektivem Identitätsgefühl herstellen, so wird man den radikalen Formen des liberalen Individualismus entgegenwirken müssen, sowie Formen des Kommunitarismus. Es besteht kein Zweifel: Wir durchleben eine tiefe Krise der liberalen Ordnung, die ihre Wurzeln zum Teil im Liberalismus selbst findet, genauer gesagt in einer bestimmten Abart des Liberalismus. Insofern würde ich das eben Gesagte vielleicht nuancieren: wir durchleben eine tiefe Krise einer spezifischen Form der liberalen Ordnung. An uns ist es, indem wir uns mit der an Varianten reichen liberalen Tradition auseinandersetzen, eine angemessene liberale Antwort auf die Krise einer bestimmten Form der liberalen Ordnung finden.

Populistische Bewegungen inszenieren den Staat oft als korruptes oder abgehobenes Establishment, das gegen „das Volk“ arbeitet und fordern zugleich mehr staatliche Kontrolle in bestimmten Bereichen. Zudem geben ebendiese Bewegungen an, für die Interessen dieses Volkes zu sprechen. Wie verändert Populismus unser Verständnis vom Staat – und welche langfristigen Folgen hat das für staatliche Institutionen?

Der Populismus greift vor allem die politische Elite an, ohne dabei unbedingt die Legitimität des Staates als solchen in Frage zu stellen. Ludwig XIV. soll gesagt haben: „L’Etat, c’est moi“ – der Staat, das bin ich. Die Populisten sagen dem Volk: „Der Staat, das sind nicht die korrupten Eliten, sondern der Staat, das seid ihr“. Damit ist gemeint: Die Gesetze sollen sich nicht nach den Werten, Prinzipien und nach dem Weltbild einer abgehobenen Elite orientieren, sondern nach dem „gesunden Volksempfinden“, wobei das Volk meistens sowohl ethnisch/nationalistisch – wir vs. die Ausländer – als auch sozial – wir hier unten vs. die da oben – definiert wird. Insofern ist es kein Widerspruch, wenn die populistischen Parteien mehr staatliche Kontrolle verlangen. Denn wenn der Staat das Volk ist oder das Volk der Staat, dann ist Kontrolle durch den Staat zugleich Kontrolle durch das Volk. Und das Volk soll kontrollieren, dass es als homogenes Volk erhalten bleibt. Insofern das als homogene Masse gedachte Volk – homogen, nachdem die Eliten, die Ausländer, usw. pauschal und im günstigsten Fall nur symbolisch als heterogene Elemente ausgeschieden wurden – nicht direkt selbst die Macht ausüben kann, bedarf es einer die legitimen Anliegen des Volkes zum Ausdruck bringenden Partei oder Bewegung, und diese bedient sich der Wahlen, um die Kontrolle möglichst aller staatlichen Institutionen zu erlangen. Der Staat wird dabei als eine Institution gedacht, der es nicht mehr darum geht, die Bedingungen der Möglichkeit eines zivilisierten Zusammenlebens zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansichten über das Gute zu garantieren, und der stark genug ist, um den Übergang vom „Kulturkampf“ zum „Kulturkrieg“ zu verhindern, sondern er wird zur Instanz, die dafür sorgen muss, dass es keine „Kulturkämpfe“ mehr gibt. Um es plakativ zu formulieren: Schwacher liberaler Staat: Kulturkrieg und Anarchie. Starker liberaler Staat: Kulturkampf und Ordnung. Populistischer Staat: Ordnung. Dabei haben populistische Parteien es vor allem auf die Justiz abgesehen, da diese mit ihrem Festhalten an Prozeduren und an der Rechtsidee dem Handeln der Exekutive – und der Populismus gibt dieser den Vorrang vor der legislativen Gewalt – oft entgegensetzt ist und es hemmt. Demnach versucht man entweder die freiwerdenden Posten in den höchsten Gerichten mit treuen Anhängern zu besetzen, oder der richterlichen Gewalt werden die Flügel gestutzt. Hauptsache, die Exekutive kann frei handeln. Gegebenenfalls werden die verfassungsrechtlichen Regeln der Wiederwahl verändert, damit man länger an der Macht bleiben kann. Und wenn das Parlament nicht mitmacht, wendet man sich direkt an das Volk und der Präsident lässt per Volksentscheid die Verfassung ändern.

In den USA ist zu beobachten, dass populistische Bewegungen zunehmend von superreichen Unternehmern wie Elon Musk unterstützt oder sogar angeführt werden. Besonders die CEOs großer Tech-Konzerne nutzen ihre wirtschaftliche und mediale Macht, um politische Diskurse zu beeinflussen. Welche Auswirkungen hat diese zunehmende Verflechtung von ökonomischer Macht und populistischen Strömungen auf die Funktionsfähigkeit des demokratischen Staates?

In dem 1840 erschienenen zweiten Band seines Werkes De la démocratie en Amérique, hat Alexis de Tocqueville geschrieben, dass er zwar nicht sehe, was sich kurz- oder mittelfristig der demokratischen Welle widersetzen könnte, die ihm zufolge dabei war, die gesamte Welt zu ergreifen. Eine langfristige Gefahr sah er aber, und zwar die Gefahr einer industriellen Aristokratie. Es könnte gut sein, schrieb er, dass sich die, um den Wortlaut der Frage zu übernehmen, „superreichen Unternehmer“ als homogene – zumindest was ihre Interessen betrifft – Klasse begreifen und sich ihrer – ich übernehme wieder den Wortlaut der Frage – „wirtschaftlichen und medialen“ Macht bedienen, und zwar nicht nur, „um politische Diskurse zu beeinflussen“, sondern auch, um die Menschen auszubeuten. Und Tocqueville schließt mit der Warnung ab, dass die „Freunde der Demokratie“ – Tocquevilles Ausdruck – ihr Augenmerk auf diese – damals noch rein virtuelle – Gefahr richten sollten. Hätten die Freunde der liberalen Demokratie die Tocquevillesche Warnung ernst genommen, wären wir vielleicht nicht da, wo wir sind. Aber die liberalen Demokratien haben es nicht fertiggebracht, die Politik von der ökonomischen Macht abzukapseln – womit natürlich nicht gesagt werden soll, dass man, wie in der athenischen Demokratie, die Superreichen hätte rauswerfen sollen. Dabei muss gesagt werden, dass die ökonomisch Mächtigen die politische Macht schon seit längerer Zeit beeinflussen und unterstützen. Und wenn die populistischen Parteien, wie dies oft geschieht, behaupten, sie würden, wenn an der Macht, alle die Wirtschaft hemmenden Umwelt-, Gesundheits- und sonstige Standards abschaffen, können sie damit rechnen, die Unterstützung vieler großer Unternehmer zu bekommen. Die Kontrolle über die Gesetzgebung übt dann nicht mehr das Volk aus, sondern die Großunternehmer. Sprach Tocqueville von einer industriellen Aristokratie, so können wir heute von einer High-Tech Aristokratie sprechen. Aber während Tocqueville die Gefahr in ferner Zukunft sah, sehen wir sie direkt vor uns. Und in einem solchen Fall sollte man die Lektüre Tocquevilles durch die Lektüre von Etienne de la Boétie ergänzen, der darauf aufmerksam machte, dass die Macht der Mächtigen vom Gehorsam der Unterworfenen abhängt. Was wäre Elon Musk noch, wenn niemand mehr an seinen Produkten und Dienstleistungen interessiert wäre und sie nicht mehr kaufen würde. Allerdings sollte man bedenken, dass man, wenn man Elon Musks Produkte boykottiert, nicht nur Musk trifft, sondern auch alle Menschen, die ihr tägliches Brot dadurch verdienen, dass sie für Musk arbeiten. Wichtig wären auch Gesetze gewesen, die es den Medienzaren unmöglich gemacht hätten, über große Medienimperien zu verfügen, mittels derer sie die öffentliche Meinung manipulieren können.

Populistische Bewegungen gewinnen insbesondere in Zeiten von Krisen und Konflikten – etwa während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, der sogenannten Flüchtlingskrise oder der Coronapandemie – an Einfluss. Welche Rolle spielen Begriffe wie Souveränität, Ausnahmezustand oder kollektive Identität in der Attraktivität populistischer Narrative während solcher Krisenzeiten?

In Krisenzeiten will man beschützt werden, und bis auf weiteres ist der Staat diejenige Instanz, von der die meisten noch glauben, dass sie uns am besten beschützen kann. Der Staat braucht Menschen, die in seinem Namen handeln, und die populistischen Bewegungen behaupten von sich, dass sie am besten in der Lage sind, sich der in den Händen des Staates befindlichen Instrumente zu bedienen, um den Krisen und Konflikten zu begegnen. Dabei spielt der Begriff der nationalen Souveränität eine zentrale Rolle: Wenn ein Land sich in allen Hinsichten unabhängig machen kann von allen übrigen Ländern, dann bestimmt es allein über sein Schicksal. Und wer möchte nicht allein über sein Schicksal bestimmen? Warum sollte ein Land sich von einem internationalen Gerichtshof vorschreiben lassen, wie es mit Minoritäten umzugehen hat; wieso sollte es sich vorschreiben lassen, wie hoch sein Staatsdefizit sein darf; wieso sollte es sich vorschreiben lassen, welche Umweltnormen usw. es respektieren soll? Wie einst die französischen Könige dem Kaiser und dem Papst ein „Le roi est souverain en son royaume“ – der König ist souverän in seinem Königreich – entgegenhielten, pochen auch die populistischen Bewegungen auf diese Souveränität. Dabei hat sich die Welt aber erheblich verändert, und die Konsequenzen der massiven CO2-Emissionen eines Landes beschränken sich nicht auf dieses Land allein. Man sollte hier auch den Begriff der Angst anführen, denn die populistischen Bewegungen profitieren vom Angstklima, das sich heute verbreitet. Zur Coronazeit hatten die einen Angst, zu erkranken und eventuell zu sterben, die anderen hatten Angst, dass immer mehr Freiheiten dem Sicherheitsdrang zum Opfer fielen, usw. Dabei ist zu bemerken, dass der Populismus sich in liberale Kleider hüllen kann, um die Individuen vor der sie kontrollieren und zwangsimpfen wollenden Macht des Staates und der hinter ihr stehenden Eliten – von denen vermutet wird, dass sie die Interessen der Pharmaindustrie vertreten – zu schützen.  Während der Coronapandemie waren die populistischen Bewegungen eher gegen den Gedanken der Ausrufung eines Ausnahmezustandes. Was nicht bedeutet, dass sie nicht bei anderen Krisen nach der Ausrufung eines Ausnahmezustandes verlangen können, so etwa, wenn es darum geht, Flüchtlinge, die sich nichts vorzuwerfen haben, rauszuwerfen. Hier bemerkt man eine Eigenart der heutigen Epoche – aber sie ist vielleicht nicht neu – und die man anhand der Einstellung zu höchsten Gerichten verdeutlichen kann: Entscheidet ein höchstes Gericht so, wie man selbst entschieden hätte, dann weist man auf die Wichtigkeit höchster Gerichte für die Bewahrung der Rechte und Werte hin, entscheidet dieses selbe höchste Gericht ein anderes Mal aber anders, als man selbst entschieden hätte, dann verurteilt man das Gericht und verlangt vielleicht sogar, dass es abgeschafft wird. Wenn man Kindern ein Spiel beibringt, bringt man ihnen zugleich bei, dass sie nicht jedes Mal gewinnen können und dass man auch manchmal eine Niederlage einstecken muss. Wichtig ist, dass noch weitergespielt wird und dass jeder die Möglichkeit behält, sich am Spiel zu beteiligen. Dann noch ein Wort zur kollektiven Identität. In Krisenzeiten leidet nicht nur die kollektive, sondern auch die individuelle Identität. Wer sich zu liberalen Werten bekennt, kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob die Bewahrung dieser Werte nicht manchmal verlangt, dass man sie provisorisch verletzt. In Krisenzeiten stellt sich somit nicht nur die Frage „Welche Gesellschaft wollen wir sein?“ bzw. „Wollen wir die Gesellschaft bleiben, die wir sind?“ – nebenbei bemerkt, die Devise Luxemburgs lautet: „Mir wëllen bleiwen waat mir sinn“ (Wir wollen bleiben was wir sind) –, sondern das Individuum selbst sieht sich mit Dilemmasituationen konfrontiert. So etwa Menschen, die bis 2022 Pazifisten waren, und die der russische Einmarsch in die Ukraine dazu geführt hat, ihren Pazifismus zu überdenken.

Wenn Populismus eine Reaktion auf demokratische Defizite ist – wie kann die Demokratie widerstandsfähiger werden? Wie kann der Staat gestärkt werden, um populistischen Bewegungen entgegenzuwirken, ohne legitime Proteste zu unterdrücken?

Bestimmte Politiker benutzen die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsschichten, um ihre Macht zu etablieren und um jene Privilegien zu genießen, die bislang die von ihnen verurteilten korrupten Eliten sollen genossen haben. Auch wenn Institutionen eine liberale Demokratie widerstandsfähiger machen können, so darf nie vergessen werden, dass Institutionen keine selbstfunktionierenden Entitäten sind. Es geht auch darum, die Menschen widerstandsfähiger zu machen gegenüber den oft der Komplexität der modernen Welt nicht gerecht werdenden Diskursen der Populisten. Wir müssen endlich lernen, in Nuancen zu denken, und bevor wir uns dem Standpunkt unseres Gegenübers widersetzen, sollten wir zunächst nach solchen Elementen suchen, die er und wir teilen. Nehmen wir die Abtreibung als konkretes Beispiel. Alle an der Diskussion beteiligten Parteien, also sowohl die pro-life als auch die pro-choice, teilen die Ansicht, dass es, absolut gesehen, besser ist, wenn eine Frau nicht in eine Situation gerät, in welcher sie abtreiben muss. Hier müsste man dann ansetzen, um zu sehen, wie man eine Welt herbeiführen kann, in welcher die Frauen nicht in die Lage geraten, abtreiben zu müssen. Dass man dann unterschiedliche Ansichten darüber hat, ob man vorübergehend Abtreibungen in der nicht-idealen Welt zulassen sollte oder nicht, würde dann vielleicht nicht mehr zu den oft irrationalen Konflikten führen, die wir heute manchmal erleben. Hinter den Punkten, zu denen es ein reasonable disagreement geben kann, muss man also sehen, welche Ziele man teilt.  Und vor allem müssen wir wieder lernen, miteinander zu reden und den anderen nicht gleich als Faschisten oder Rechtsextremisten bezeichnen, wenn er auf die möglichen Gefahren hinweist, die mit einer zu massiven Aufnahme von Flüchtlingen verbunden sind. Hören wir auf seine Argumente, untersuchen wir sie und sehen wir gemeinsam, ob man den Gefahren oder Problemen vorbeugen kann. Liberale Institutionen leben vom guten Willen derjenigen, die an ihnen teilnehmen und ihnen unterworfen sind. Wollen wir die Institutionen des liberal-demokratischen Rechtsstaates stärken, so müssen wir die kritische Urteilskraft der Menschen stärken. Finden die populistischen Parteien keine Wähler mehr, dann braucht man sie nicht mehr zu befürchten.

Vor kurzem ist zum Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Reihe „Staatsverständnisse“ die Neuauflage von „Der Leviathan“ mit einem Beitrag von Ihnen erschienen. Welche zentrale Lehre können wir in unserer aktuellen Zeit aus Thomas Hobbes „Leviathan“ ziehen?

Von seinen Zeitgenossen erwartete Hobbes, dass sie aus dem Leviathan die Lehre ziehen, dass die Anfechtung der souveränen Macht des Staates durch machtvolle gesellschaftliche Gruppen gegebenenfalls – wenn der Staat nicht die Bedingung erfüllt, die ganz oben auf dem Titelbild des Werkes angedeutet und dem Alten Testament entnommen ist (non est potestas super terram quae ei comparetur) – in den alle sozialen Errungenschaften zunichtemachenden Bürgerkrieg führen kann, wie ihn England zwischen 1642 und 1649 kannte, und wie man ihn auch zur selben Zeit in Frankreich zwischen 1648 und 1652 mit der Fronde erlebte. Kürzer formuliert: Lieber ein allmächtiger Staat als kein Staat. Was man auch rechtsphilosophisch ausdrücken kann: Lieber ein schlechtes oder gar ungerechtes Gesetz – ein solches Gesetz kann es bei Hobbes natürlich nicht geben – als kein Gesetz. Oder noch einfacher: Lieber irgendeine Ordnung als Chaos.

Hobbes war ein Verfechter des politischen Absolutismus, nicht aber des Totalitarismus. Der Hobbessche Staat soll das Leben der Menschen nur insofern kontrollieren, dass sie einander gegenüber keine Gewalt anwenden, so dass jeder seinen privaten Geschäften nachgehen kann. Der Hobbessche Staat steht somit im Dienste der Individuen, ohne deren Vertrag er nicht existieren würde und ohne deren Mitarbeit er gar nicht funktionieren könnte. Diejenigen, die an der Spitze des Staates stehen, müssen dies einsehen, und daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass sie sich diese Mitarbeit der Individuen sozusagen Tag für Tag verdienen müssen. Mit Ernest Renan könnte man hier von einem permanenten Plebiszit sprechen. Die Individuen müssen ihrerseits einsehen, dass ohne ihre Mitarbeit, aber auch ohne ihre permanente Kontrolle, die Gefahr der Anarchie oder die Gefahr der Tyrannis entsteht, letztere vor allem dann, wenn die Herrschenden Polizei und Armee kontrollieren. Warum haben die Amerikaner sich das Recht vorbehalten wollen, Waffen zu tragen? Um sich gegebenenfalls gegen die bewaffnete Macht eines ihre Freiheit angreifenden Staates zu schützen. Damit entsteht aber auch die Gefahr, dass diese Individuen ihre Waffen einsetzen, um die Staatsmacht zu erobern und dadurch der Gesellschaft ihren Willen aufzudrängen. Und damit ist man beim Hobbesschen Krieg eines jeden gegen einen jeden.

Welche Lehre können wir heute, im Jahr 2025, 375 Jahre nach dem Erscheinen der englischen Originalfassung des Leviathan ziehen, und angesichts aller Erfahrungen, die wir seitdem gemacht haben? Dass das Grundproblem der politischen Philosophie, nämlich wie man individuelle Freiheit und soziale Ordnung miteinander in Einklang bringen kann – nicht umsonst habe ich meiner im Jahr 2000 in Paris erschienenen Hobbes-Einführung den Untertitel L’ordre et la liberté (Ordnung und Freiheit) gegeben –, nicht einfach zu lösen ist, und dass bei jedem Lösungsversuch die Gefahr besteht, dass man einen dieser beiden Werte opfert. Aber es gibt vielleicht noch eine andere Antwort auf die Frage nach der aus dem Leviathan zu ziehende Lehre, eine Antwort, die man in dem französischen Sprichwort „La peur est mauvaise conseillère“ – die Angst ist eine schlechte Beraterin – ausdrücken kann. Es ist die Angst voreinander und vor dem gewaltsamen Tod, den die anderen ihnen zufügen können, die bei Hobbes die Menschen dazu treibt, sich einem allmächtigen Staat zu unterwerfen. Im Naturzustand droht der gewaltsame Tod immer und überall, egal was man macht; im staatlichen Zustand ist der gewaltsame Tod eine Gefahr nur für diejenigen, die den sozialen Frieden unmittelbar stören oder die Bedingungen der Möglichkeit dieses sozialen Friedens – den Staat – bedrohen. Hobbes geht davon aus, dass die große Masse der Menschen keine anderen Ambitionen haben, als ein glückliches Privatleben zu führen, ohne jemals den sozialen Frieden zu stören oder sich nach politischer Macht zu sehnen. Diese Menschen gehen davon aus, dass je mächtiger der Staat ist, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Bedingungen der Möglichkeit eines glücklichen Privatlebens – öffentlicher Frieden und soziale Ordnung – ernsthaft zerstören kann. Dabei vergessen sie, dass die Herrschenden auch nur Menschen sind und dass deren Ambitionen sich nicht unbedingt auf das glückliche Privatleben reduzieren lassen.

Um mich kurz zu fassen. Lernen wir aus Hobbes auch, dass die Angst eine schlechte Beraterin ist, wenn sie nur die Form der Angst vor den „pole cats“, wie Locke sie in seiner berühmten impliziten Kritik an Hobbes nannte, annimmt. Man muss auch Angst vor dem Löwen haben, dem man sich unterwirft, um den anderen Wildkatzen zu entkommen. Die größte Angst, die man heute haben muss, und dies ist ein Punkt, auf den schon Tocqueville hingewiesen hatte, ist, dass die Zivilgesellschaft als eine jedem zugängliche Sphäre einer sich stets weiterbildenden öffentlichen Vernunft verschwindet, in welcher, um mit Habermas zu reden, nur der zwanghafte Zwang des besseren Arguments gilt. Sie bietet den Individuen eine sie aus ihrer Privatsphäre hinausführende Option an, und sie tritt gleichzeitig dem Staat als Gegengewicht und als eine zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen vermittelnde Instanz gegenüber.

 

Unser Beiträger

Norbert Campagna (geb. 1963), Dr. phil. habil., ist professeur-associé an der Université du Luxemburg und Studienrat am Lycée de Garçons Esch. Seine Forschungsgebiete sind die Staats- und Rechtsphilosophie sowie die Sexualethik. Er ist Mitherausgeber der Reihe „Staatsverständnisse“ im Nomos Verlag. Sein 38. Buch „Philosophische Sexualethik. Eine Geschichte von Platon bis zur Gegenwart“ erscheint demnächst (Mai 2025) in Freiburg beim Herder-Verlag.