Im Gespräch mit Dr. Helge-Fabien Hertz
Herr Dr. Hertz, Sie begleiten das Thema Kinderverschickung seit mehreren Jahren wissenschaftlich. Was hat Sie persönlich an diesem Thema besonders berührt oder motiviert, sich so intensiv damit auseinanderzusetzen?
Mich berühren vor allem die vielen sehr persönlichen Schicksale, die im Zuge der Aufarbeitung geteilt werden – sowohl die furchtbaren Leiderfahrungen ehemaliger Verschickungskinder als auch die Berichte jener, die von Erholung und Gemeinschaft sprechen. Ebenso bewegen mich die Erzählungen des früheren Kurheimpersonals, wenn es schildert, wie sehr es sich für das Wohl der Kinder eingesetzt hat. Aus Forschersicht besonders motivierend ist die große gesellschaftliche Relevanz des Themas, aber auch die wissenschaftliche Herausforderung, die Vielzahl unterschiedlicher Erinnerungen historisch einzuordnen und zu verstehen, warum die Erfahrungen von Verschickungskindern und Personal teilweise so weit auseinanderliegen.
Der Runde Tisch in St. Peter-Ording brachte erstmals sehr unterschiedliche Perspektiven zusammen – ehemalige Verschickungskinder, Personal, Anwohnende, Politik. Was hat Sie in diesem Dialog am meisten überrascht oder bewegt?
Der Runde Tisch war nicht nur für die Diskutierenden, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht ein faszinierendes Format! Besonders überrascht hat mich, wie schnell sich die Teilnehmenden einander angenähert haben und wie konstruktiv, respektvoll und sachorientiert die Diskussionen verliefen – trotz der emotionalen Dimension des Themas. Das war keineswegs selbstverständlich, da Verschickungskinder und Kurheimpersonal bislang häufig als sehr gegensätzliche Gruppen dargestellt wurden. Ein wesentlicher Schlüssel zum Gelingen war, dass die Erinnerungen aller Teilnehmenden nicht in Frage gestellt wurden – weder die schmerzhaften noch die positiven.
Ihr Buch spricht von einem „neuen Weg der gesellschaftlichen Aufarbeitung“. Worin unterscheidet sich dieser dialogische Ansatz von bisherigen Formen historischer Aufarbeitung?
Die bisherige Aufarbeitung konzentrierte sich fast ausschließlich auf Berichte von Verschickungskindern mit negativen Erfahrungen. Andere Perspektiven – etwa von Kindern mit positiven Erinnerungen, vom damaligen Personal oder von Anwohnenden – blieben weitgehend unberücksichtigt, wurden manchmal sogar bewusst ausgeklammert. Diese Einseitigkeit wird der Komplexität des Themas jedoch nicht gerecht. Der Runde Tisch eröffnete erstmals einen Raum, in dem unterschiedliche Erfahrungen gleichberechtigt nebeneinanderstehen konnten. Aus der Vielfalt der Stimmen entstand ein vielschichtiges, gemeinsames Gesamtbild. Gerade in einer Zeit, in der gesellschaftliche Debatten von zunehmend unversöhnlicher Polarisierung geprägt sind, ist das ein großer Erfolg.