Der Nomos Verlag trauert um Peter Häberle
„Die Staats- und Verfassungslehre hat einen ihrer ‚Großen‘ verloren.“
Am 6. Oktober 2025 ist Peter Häberle verstoben, einer der auch international wirkmächtigsten Staatsrechtslehrer. Er war unserem Verlag seit Jahrzehnten eng verbunden, sowohl über seine Studien zur Europäischen Verfassungslehre als auch durch seinen kulturwissenschaftlich geprägten Blick auf das Recht. Mit seinen Veröffentlichungen und Stellungnahmen hat er anderen Jurist:innen geholfen, ihren Blick über den Tellerrand hinaus zu weiten – und er war zugleich immer bereit, seinen eigenen Horizont weiter auszudehnen. Damit war er ein grosser Rechtslehrer im wahrhaftesten und besten Sinne – und daher wollen wir hier einen seiner Schüler zu Wort kommen lassen:
Zum Gedenken an Peter Häberle
Peter Häberle (13. Mai 1934 – 6. Oktober 2025) war ein „europäischer Jurist“ (so Günter Hirsch im Jahre 1999), ein fest in seiner schwäbischen Heimat verwurzelter juristischer Kosmopolit. Seine Verfassungslehre im offenen Denkstil und jenseits aller dogmatischen Engführungen findet weltweite Rezeption. Sieben Ehrendoktorwürden und eine Fülle anderer Auszeichnungen und Ehrungen sprechen für sich. Unter anderem in Brasilia, Granada und Madrid tragen Forschungsinstitute Häberles Namen. Gerade ihre kulturelle Offenheit macht seine verfassungswissenschaftlichen Ansätze international so anschlussfähig. Verfassung begriff Häberle stets in ihren Kontexten und aus ihren Kontexten heraus, und das lange bevor „law in context“ in aller Munde war. Vor allem arbeitete und dachte er immer von der Kultur her, wurde so zu dem maßgeblichen Exponenten einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre. Das kam nicht von ungefähr. Die tiefe Verwurzlung in der Kultur und die Liebe zur Musik verdankte der Jurist Peter Häberle, der immer auch sein Stück weit Künstler war – sensibel, kreativ, assoziativ –, dem Göppinger Elternhaus. Von dort aus brach er nach Tübingen, Bonn und Freiburg im Breisgau auf, ein Auslandsaufenthalt führte ihn nach Montpellier. Seine wissenschaftliche Heimat aber wurde die „Freiburger Schule“ um den Smend-Schüler Konrad Hesse, bei dem Häberle 1961 promoviert wurde. Auch Horst Ehmke, für den Häberle als wissenschaftlicher Assistent tätig war, beeinflusste sein Denken, nicht zuletzt in Fragen der Verfassungsinterpretation. Auf Promotion und Habilitation folgten eine Lehrstuhlvertretung in Tübingen und zahlreiche Rufe, drei davon nahm Häberle an, zunächst auf einen Lehrstuhl nach Marburg, dann nach Augsburg und schließlich nach Bayreuth. Einem Auslandsruf in die Schweiz wollte er zwar nicht folgen, bekleidete aber 20 Jahre lang eine ständige Gastprofessur an der Universität St. Gallen und lehrte dort mit großem Erfolg Rechtsphilosophie. Seine Schweizer Alma Mater dankte ihm dieses Engagement mit der Ernennung zum Ehrensenator auf Lebenszeit und der Errichtung der „Peter-Häberle-Stiftung für Staats- und Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“.
Schon von Freiburg aus entfaltete die Dissertation über die „Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG“ (1962, 3., stark erweiterte Aufl. 1983) außerordentliche Wirkkraft. Nicht minder großen Einfluss auf das Verfassungsdenken unter dem Grundgesetz – und weit darüber hinaus – hatte das Regensburger Staatsrechtslehrerreferat über „Grundrechte im Leistungsstaat“ aus dem Jahre 1971. Die Habilitationsschrift (1970, 2., erweiterte Aufl. 2006) über das „Öffentliche Interesse als juristisches Problem“ bildete die Grundlage für spätere Fortschreibungen im Sinne einer „europäischen Öffentlichkeit“ und eines „europäischen Gemeinwohls“, beides Themen, die für die spätere Zusammenarbeit Häberles mit dem Verlagshaus Nomos eine wichtige Rolle spielen sollten . Begonnen hat diese Zusammenarbeit schon im Jahre 1983, ganz typisch für Häberles kulturwissenschaftliches Denken, mit dem heute längst vergriffenen Band „Das Grundgesetz der Literaten – Der Verfassungsstaat im (Zerr-)Spiegel der Schönen Literatur“. Bevor den europarechtlichen Arbeiten bei Nomos noch genaueres Augenmerk gilt, ein kurzer Blick auf weitere wichtige Meilensteine aus dem schier unerschöpflichen Oeuvre des Bayreuther Ordinarius: „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ war in Jahre 1975 ein fast revolutionäres Konzept der Verfassungsinterpretation: „Wer einen Verfassungsnorm lebt, interpretiert sie auch“ – heute eines der meistrezipierten Paradigmen aus Häberles Feder. Das „Religionsverfassungsrecht“ begriff er ebenfalls schon in den 1970er Jahren als notwendige Fortentwicklung zum tradierten Staatskirchenrecht. Die kulturelle Verfassungsvergleichung und insbesondere die Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung trugen später entscheidend zur interdisziplinären Öffnung der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft bei. Mit großem Gespür für die pointierte Zuspitzung neuer Themen, wirkte Peter Häberle dabei immer auch begriffsprägend, man denke an die „Rechtvergleichung als fünfte Auslegungsmethode“, das „Textstufenparadigma“, den „kooperativen Verfassungsstaat“, den „Parlamentsvorbehalt“, den „Doppelcharakter der Grundrechte“, die „Kontextthese“, das „Möglichkeitsdenken“ und immer wieder die „Verfassungskultur“ respektive die „Verfassung als Kultur“. Bis in das Spätwerk greifen die Themen weit aus, von der „Kultur des Friedens“ bis hin zu verfassungsrechtlichen Lehr- und Lesebüchern zu Afrika und Lateinamerika, von einem „Menschenrecht auf Kultur“ bis hin zum „kulturellen Generationenvertrag“.
Um auf den „europäischen Juristen“ zurückzukommen. Peter Häberle war ebenso Herzens- wie Verstandeseuropäer, fest überzeugt, dass es zur europäischen Integration keine sinnvolle Alternative gibt. Oft hat er Thomas Manns Wendung vom „europäischen Deutschland“ zitiert, wissenschaftliche Erkenntnisse über mit leidenschaftlichen Bekenntnisse zu Europa verbunden. Dem Nomos-Verlag war er besonders dankbar, dass seine europarechtlichen Schriften dort ein Zuhause gefunden haben. Das beginnt spätestens mit den im Jahre 1994 vorgelegten Studien zur „Europäischen Rechtskultur“, in denen Häberle sein kulturwissenschaftliches Selbstverständnis für den europäischen Verfassungsraum und die die Wissenschaft vom europäischen Verfassungsrecht ausbuchstabiert. Im Jahre 1999 wagten Autor und Verlag erstmals eine „Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien“. Sie bildet das Fundament für die 2001/2002 erstmals monographisch verdichtete „Europäische Verfassungslehre“, heute in 8. Auflage 2016 mit großem Erfolg fortgeführt. Ergänzend dazu leuchten Sammelbände aus dem Hause Nomos Häberles Verfassungsdenken in großer perspektivischer Vielfalt aus, so der von Martin Morlok herausgegebene Sammelband (2001) über „Die Welt des Verfassungsstaates“, der die Erträge eines zu Häberles 65. Geburtstag in Baden-Baden veranstalteten Festkolloquiums bündelt. 2016 thematisieren Robert Chr. Van Ooyen und Martin H. W. Möllers unter dem Titel „Verfassungs-Kultur“ Staat, Europa und pluralistische Gesellschaft im Werk von Peter Häberle. Besonders glücklich war Häberle darüber, dass der Nomos-Verlag in Kooperation mit dem britischen Verlag Richard Hart einige seiner zentralen Schriften einem englischsprachigen Publikum zugänglich machte: „Peter Häberle on Constitutional Theory“, 2018. Schließlich hält der Sammelband zu „Verfassung – Gemeinwohl – Frieden“ (2020) das letzte große Festkolloquium zu Häberles 85. Geburtstag in lebendiger Erinnerung. Peter Häberle durfte, in den letzten Jahren schon von Alter und Krankheit gezeichnet, aber geistig hellwach, auf ein gelungenes Lebenswerk zurückblicken. Mit seinem Tod verliert die Staats- und Verfassungslehre einen ihrer „Großen“. Sein Denken und seine Schriften werden fortwirken, daran besteht kein Zweifel.
Markus Kotzur