Das Wechselspiel von Religion und Migration facettenreich analysiert

08.03.2023

Das Wechselspiel von Religion und Migration facettenreich analysiert

Im Gespräch mit Martin Baumann (li.) und Alexander-Kenneth Nagel (re.)

Der Titel Ihres Buches bringt die beiden Begriffe ‚Religion‘ und ‚Migration‘ zusammen. Inwiefern ist das wichtig?

„Migranten und Migrantinnen bringen neben beruflicher Ausbildung ihre religiösen Praktiken und Ideen mit. Dieser Aspekt wird gerade in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung häufig übersehen. Dabei hat Migration historisch und aktuell entscheidend zur religiösen Pluralisierung vieler Aufnahmeländer beigetragen. Die neue Vielfalt von Religionen führt immer wieder zu Anfragen und Unsicherheit, so dass hier Informations- und Klärungsbedarf besteht. Das Buch zeigt in systematischer Perspektive auf der Individual-, der Gruppen- und der nationalstaatlichen Ebene auf, welche gesellschaftlichen Veränderungen mit Zuwanderung einhergehen und wie sich religiöse Einstellungen und Praktiken von Migranten und Migrantinnen verändern. Und es thematisiert in stärker anwendungsbezogenen Kapiteln beispielsweise Debatten um neu errichtete religiöse Bauwerke und die damit verbundenen Chancen und Konflikte. Wir argumentieren, dass es in der gegenwärtigen Migrationsgesellschaft einer Religionskompetenz bedarf, um produktiv mit religiöser Diversität umgehen zu können.“

Lässt sich das Wechselverhältnis von Religion und Migration kurz darstellen?

„Migration hat viele Religionen in neue Länder und Staaten gebracht. Gerade in den historisch religiös eher homogenen Ländern Europas haben Wanderungsprozesse zu einer Pluralisierung von religiösen Auffassungen und Praktiken geführt. Andererseits ist Religion vielen Migrantinnen und Migranten ein wichtiger Halt, da religiöse Gemeinschaften ihnen emotionale Sicherheit, soziale Unterstützung und Zuversicht bieten. Das kann helfen, im neuen Land Fuß zu fassen und sich sozial und beruflich zu integrieren. In anderen Fällen kann es passieren, dass Zuwanderer ihre Herkunftsreligion stärker hinterfragen, ins Private verlagern oder sogar ganz ablegen. Im Laufe der Zeit passen sich religiöse Auffassungen und Praktiken der Migrantinnen und Migranten an landestypische Formen und Muster an. Insofern war und ist Migration ein wichtiger Faktor für religiösen Wandel und Innovation.“

Können Sie ein gelungenes Beispiel von Integration und religiösem Pluralismus aufführen?

„Ein gutes Beispiel ist die Verbindung von Moscheebauprojekten und interreligiösem Aktivismus. Da repräsentative Moscheen (aber auch bspw. Hindutempel) immer wieder mit Vorbehalten in Teilen der Stadtgesellschaft zu kämpfen haben, gründen sich während des Planungs- und Bauvorgangs häufig interreligiöse runde Tische oder andere Initiativen. Das Bauvorhaben gibt damit den Anstoß für eine konstruktive zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung und die Kultivierung religiöser Vielfalt. Die Initiativen sind nicht nur Foren interreligiöser Solidarität, sondern können auch zur Lösung und Prävention von Konflikten im Stadtteil beitragen. Darüber hinaus dienen repräsentative Sakralbauten als sichtbare Anlaufstellen und werden so zu Brücken zwischen religiösen Migrantenorganisationen und der Stadtgesellschaft. In der Logik unseres Bandes verbinden sich hier die Aspekte Sakralbau, interreligiöser Dialog, gesellschaftliche Teilhabe und Religionskompetenz.“

Migrationsbewegungen haben die ‚Religionslandschaften‘ vieler europäischer Staaten nachhaltig verändert. Das Studienbuch vermittelt systematische und anwendungsorientierte Kenntnisse zum Wechselverhältnis von Religion und Migration aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Zur Sprache kommen Analysen zu religiösem Wandel in der Diaspora und Integration im Zeichen religiöser Pluralisierung. Thematische Vertiefungen decken Moscheebaukonflikte, interreligiöse Dialoge, Digitalisierung und Fragen der Religionskompetenz ab. Das Buch richtet sich an Studierende der Religionswissenschaft und angrenzender Fächer (z.B. Ethnologie, Soziologie, Kulturanthropologie) sowie an interessierte Praktiker:innen, etwa im Bereich der Sozialen Arbeit.