NOESIS
Die Verbiederung der Intellektuellen

NOESIS
Die Verbiederung der Intellektuellen

Was heißt es heute noch, Intellektueller zu sein – und ist diese Figur womöglich überlebt?
Im aktuellen Beitrag unseres Philosophie-Newsletters NOESIS analysiert Prof. Dr. Christian Bermes die Erschöpfung der Intellektuellenfigur im Zeitalter digitaler Öffentlichkeiten. Zwischen medialer Zersplitterung, Selbstvermarktung und schwindender Orientierungskraft zeigt er, warum der klassische Intellektuelle an Wirkung verliert. Zugleich plädiert der Text für einen Perspektivwechsel: weg von der sozialen Rolle, hin zu einem Denken, das „aufs Ganze geht“, ohne sich im Absoluten zu verrennen – und das seinen eigentlichen Ort in der Philosophie findet.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Christian Bermes

Gesucht: ein Intellektueller – Unter dieser pointierten Überschrift erschien am 26. November 2025 ein Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der aufhorchen lässt. Frauke Steffens beschreibt darin die Verkümmerung und Verbiederung der Figur des Intellektuellen. Jenseits der klassischen Medien, die noch großflächig Bindungskraft erzeugen konnten, beackert die Intellektualität neuen Typs den digitalen Schrebergarten. Die Kleinparzelle der medialen Blase ist zum Arbeitsplatz geworden. Eine Melancholie stellt sich ein, in der das Bedürfnis zum Ausdruck kommt, wieder eine Stimme zu hören, die mehr ist als Stimmung.

Sicherlich, so räumt auch Frauke Steffens ein, war die Vorstellung eines Intellektuellen, „auf den alle hören“, immer schon eine Illusion. Und man muss hinzufügen, dass sie auch nicht wünschenswert ist. Hörigkeit ist in den wenigsten Fällen ein Qualitätssigel des Geistigen, blinde Gefolgschaft ist nur selten Ausweis von Urteilskraft. Doch es sei nicht zu leugnen, dass diejenigen Instanzen, die aufgrund von Expertise oder Integrität – eher selten in beiden Hinsichten – Orientierung versprechen, geringer werden.

Der Artikel hat die USA im Blick. Hier fehle eine veritable Deutungsinstanz von Gewicht, die über die selbstbezüglichen Echokammern der sozialen Netzwerke hinweg vernehmbar sei. Das gezeichnete Bild ist allerdings auch über die Grenzen der USA hinaus bedenkenswert. Es trifft nicht nur Amerika.

 

Nicht zuletzt aufgrund der medialen Zersplitterung wandelt sich das Bild des Intellektuellen. Er bewirtschaftet eine Plattform und bedient seine Klientel. Die Intellektualität des Intellektuellen dokumentiert sich in einer Könnerschaft eigenen und neuen Typs. Er beherrscht seine Plattform und damit die User, die gelegentlich auch dafür zahlen, um mit neuen Intellektualitätshäppchen versorgt zu werden. Historisch ist das nicht neu, es ist sogar ein alter Hut. Man kennt dieses Geschäftsgebaren von den Sophisten. Und so nimmt es nicht wunder, dass im Zuge der Verbreitung und Nutzung der sozialen Netzwerke der Intellektuelle, der sich selbst in angemaßter Überheblichkeit auch schon einmal als Avantgarde begriff, nun eher in den hinteren Truppenteilen des Scharfsinns als Nachhut seinen Platz findet. Er backt kleinere Brötchen in den überhitzten medialen Backöfen des Esprits, die er gleichwohl zu befeuern sucht. Sein Horizont geht dabei kaum über den Tag hinaus. Er denkt auf Abruf.

Was man auch immer unter einem Intellektuellen verstehen mag, scheint fraglich geworden zu sein. Hierzu zählt seine singuläre Expertise, die ihm von einer Unzahl an Experten streitig gemacht wird. Aber auch sein Markenzeichen als Reibungsfläche ist in Gefahr, wenn die Rahmenbedingungen digitalen Austauschs durch Beleidigung, Schmähung und Abfälligkeit gekennzeichnet sind. Und schließlich ist die Orientierungskraft des Intellektuellen geschwunden. Denn wer braucht noch Orientierung, wenn alle sich gegenseitig eine Landkarte vor die Nase halten, die vollgestopft ist mit Wegweisern, die stets die richtigen Pfade und korrekten Ziele ausweisen?

Über die Figur des Intellektuellen ist seit ihrem Auftreten viel geschrieben und diskutiert worden. Sie geht einher mit der Intellektuellenkritik, die den Intellektuellen begleitet wie sein eigener Schatten, den er nicht abschütteln kann. Im gewissen Sinne ist er ein Überbleibsel der bürgerlichen Moderne. Mit dem sich als eigenständig und wirksam erfahrenden Bürgertum entwickelt sich die Wissenschaftsfreiheit, die Handlungsräume schafft, aber auch Belastungen neuer Art mit sich bringt. Wenn Wissenschaft nicht mehr eingehegt wird durch vorgegebene politische, ökonomische oder religiöse Interessen, wird sie frei, immer wieder neue und andere Haltegriffe zu suchen. Sie wird frei, in den konkurrierenden kulturellen Systemen die Stützpfeiler zu wechseln. Die Freiheit der Wissenschaft ist eine Freiheit, ihre Dienlichkeit immer neu in der Vielzahl und im Wettbewerb der Wissenschaftsinteressenten unter Beweis zu stellen. Das trägt zur Entfaltung von Wissenschaft bei, erhöht allerdings das Risiko. Scheler hat es in der Wissenssoziologie folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Was man gemeiniglich die ‚Freiheit der Wissenschaft‘ nennt, ist nur relative Freiheit, d.h. ein Wechsel ihrer Dienstbarkeitsrisiken.“ Aus dieser Freiheit zieht der Intellektuelle Profit. Er entdeckt die Öffentlichkeit als neue Instanz der Dienstbarkeit und geht damit ein neues Risiko ein. Es nimmt dann auch nicht wunder, wenn Intellektuelle nicht nur die Öffentlichkeit bedienen, sondern auch bemüht sind, die Öffentlichkeit als ureigene Region ihrer Dienstbarkeit abzusichern. Geschichte, Struktur, Medienabhängigkeit und Funktion der Öffentlichkeit werden zum Thema des Intellektuellen. Zerbricht oder erodiert die Öffentlichkeit, ist der Intellektuelle arbeitslos geworden.

 

Doch es stellt sich noch eine andere Frage, die nicht auf die soziale Figur des Intellektuellen abzielt, sondern darauf, was eigentlich unter der Aufgabenbeschreibung des Intellektuellen zu verstehen ist. Vielleicht ist die kürzeste Antwort die beste: Der Intellektuelle geht aufs Ganze, ohne sich im Absoluten zu verbeißen.

Was heißt es, dass der Intellektuelle aufs Ganze geht? Diese Wendung ist mehr als eine rhetorische Verdichtung, und weniger als ein emphatisches Bekenntnis zu Radikalität. Mit Radikalismus hat sie nichts zu tun, im Gegenteil. Denn, so paradox es auch klingen mag, nur im Gestus der Bescheidenheit kommt das Ganze in den Blick. Wer etwa Wissen zum Thema macht, darf sich um die Meinung nicht drücken. Ohne ein Verständnis der Doxa, bleibt die Episteme bodenlos. Wer auf Tatsachen aus ist, muss wissen, was eigentlich Sache ist. Mit Tatsachen kann man bestens Eindruck machen, Studien sind rasch geschrieben. Aber bei der Sache bleiben und zur Sache kommen ist eine eigene Kunst. Wer Gründe und Erklärungen hochhält, wird ohne Beschreibungen nicht auskommen. Und Kritik wird hohl, wenn sie nur in dem unhaltbaren Postulat mündet, alles sei verhandelbar. Denn „daß mir etwas feststeht, hat seinen Grund nicht in meiner Dummheit, oder Leichtgläubigkeit.“ (Wittgenstein) – Wer aufs Ganze geht, setzt nicht einfach alles auf eine Karte; er setzt vielmehr die Karte selbst aufs Spiel.

Der Gang aufs Ganze ist kein heroischer Akt, sondern ein demütiger. Er entzieht sich der Absicherung durch Spezialwissen, durch institutionelle Rückendeckung oder durch die Zugehörigkeit zu diskursiven Mehrheiten. Der Intellektuelle, der aufs Ganze geht, fragt nicht nach Narrativen, sondern nach Sinnhorizonten. Er nimmt die Selbstverständlichkeiten in den Blick, die den Alltag des Denkens absichern. Damit richtet sich sein Interesse weniger auf einzelne Sachverhalte als auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit und auf ihre innere Sinngeschichte.

In diesem Sinne ist der Gang aufs Ganze kein Zusammentragen oder Lückenfüllen. Er besteht nicht darin, möglichst viele Perspektiven zu sammeln oder möglichst viele Diskurse zu integrieren. Vielmehr ist er eine Rückfragebewegung, die sich auf das richtet, was die Stimmigkeit der Perspektiven sichert: auf die Weise, wie Welt überhaupt als Welt erscheint und wie Sinn entsteht. Vielleicht ist dies die eigentliche Beunruhigung. Thematisiert werden nicht Weltsurrogate wie Gesellschaft oder Diskurs, sondern der Sinn von Welt selbst.

Der Gang aufs Ganze impliziert eine Verantwortung, die nicht delegierbar ist. Der Intellektuelle kann sich nicht darauf zurückziehen, lediglich Sprecher einer Gruppe, einer Klasse oder eines Milieus zu sein. Er spricht, wenn er spricht, aus einer Position, die sich keinem Kollektiv verdankt. Gerade darin liegt seine prekäre Stellung. Historisch betrachtet war diese Haltung immer schon fragil. Doch es gab Figuren, die sich dieser Aufgabe gestellt haben. Man denke etwa an Husserl und seine Schrift zur Krisis der europäischen Wissenschaften.

 

Demgegenüber hat es sich der Intellektuelle neuen Typs gemütlich gemacht. Er hat gelernt, sich in Nischen zu bewegen, Resonanzräume zu bespielen, Anschlussfähigkeit zu optimieren, immer mal wieder eine Krise auszurufen, um rasch die passende Zeitkritik dazu zu liefern. Habitatdenkern reicht die Umwelt, Welt ist aus der Zeit gefallen. Draufgängertum wird simuliert, aber ohne aufs Ganze zu gehen. Stattdessen werden Ausschnitte, Zielgruppen und Diskurssegmente verwaltet.

Diese Entwicklung ist nicht beklagenswert, sie ist aufschlussreich. Sie zeigt, dass sich die Figur des Intellektuellen erschöpft hat. Die Intellektualität verliert sich im ‚Einordnen‘ und ‚Besserwissen‘.

Man muss dem keine Träne nachweinen. Denn der Gang aufs Ganze ist nicht an die soziale Figur des Intellektuellen gebunden. Er findet seinen eigentlichen Ort in der Philosophie. Nicht, weil diese über ein besonderes Wissen verfügte, sondern weil sie als Disziplin bereit ist, das Risiko des Ganzen auf sich zu nehmen, freilich ohne sich in Überheblichkeit zu verlieren. Eine „Verranntheit ins Unbedingte“, wie Röpke es einmal genannt hatte, ist kein Qualitätsmerkmal vernünftigen Denkens.

Die Zeit der Intellektuellen mag vorbei sein. Doch ein Denken, das aufs Ganze geht, ohne sich zu verrennen, ist es nicht. Im Gegenteil: Es ist moderner denn je. Und es gibt nur eine Instanz, die dieses Feld mit Vernunft beackern kann: eine Philosophie, die zur Sache kommt.

Prof. Dr.Christian Bermes leitet das Institut für Philosophie an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität in Landau. Er arbeitet zu Themen der Philosophischen Anthropologie, Sozialphilosophie, Praktischen Philosophie und zur Philosophie des 20. Jahrhunderts. Er gibt u.a. die „Zeitschrift für Kulturphilosophie“ mit heraus. Im Ergon Verlag ist er einer der Herausgeber der Reihe „Phänomenologie und Praktische Philosophie“.

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