NOESIS
Reflexe – Wo ist die Mitte der Gesellschaft?

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Reflexe – Wo ist die Mitte der Gesellschaft?

Von Jörg Phil Friedrich

Keiner will am Rand stehen, niemand will mehr Außenseiter sein oder jedenfalls keine Randfigur: Alle reklamieren „die Mitte“ für sich. Aber wo ist die Mitte, wenn es um politische Entwicklungen, um eine stabile und friedliche Gesellschaft geht?

Manchmal wird behauptet, die Mitte werde immer kleiner, sie sei verlorengegangen, die Ränder würden immer stärker. In letzter Zeit ist vor allem der „rechte Rand“ in Verruf geraten, er würde bereits bis in die Mitte der Gesellschaft reichen – sagen die, die sich selbst zugleich für die „demokratische Mitte“ halten.

Wahrscheinlich gab es früher, als angeblich noch alles besser war als heute, viel weniger Mitte als jetzt, früher gab es Schwarz und Rot, dazwischen Gelb – aber Gelb war keineswegs Mitte. Es gab Rechts und Links oder konservativ und progressiv, und dazwischen vielleicht liberal, aber liberal war natürlich keineswegs die Mitte zwischen CDU und SPD. Das Ideal der Mitte ist eine ziemlich neue Erfindung in der Politik, und sie wurde überhaupt nur zu dem Zweck erfunden, dass man ihren Verlust betrauern kann oder dass man sich selbst als einen Mittelpunkt betrachten und alle anderen an den bösen Rändern verorten kann.

Es gibt heute zwei Methoden, sich selbst zur Mitte zu erklären. Einerseits kann man auf seine Herkunft verweisen: man war schon immer dabei, ist gut verwurzelt und etabliert, und da, wo die Wurzel ist, da, wo diese Gesellschaft und man selbst entstanden ist, da muss die Mittel sein – das ist klar. Zu dieser Mitte gehört auch, wer schon ziemlich lange dabei ist, irgendwie ist in diesem Land, wenn man dieser Geschichte glaubt, alles zur Mitte hin gewachsen, was in der alten Bundesrepublik den Gang durch die Institutionen angetreten hat.

Andererseits kann man darauf verweisen, dass es in der Demokratie auf die Mehrheit ankäme, und man kann die Mehrheit mit der Mitte identifizieren. Die Mehrheit in Deutschland will nicht gendern und will die Migration eindämmen – damit, so die Argumentation, ist beides in der Mitte der Gesellschaft nicht wohlgelitten.

Allerdings kann die Mehrheit einer Gesellschaft natürlich auch extreme Ansichten vertreten und extreme Forderungen haben – davon, dass eine radikale Politik von vielen vertreten wird, verliert sie nicht ihren extremen Charakter, und was extrem ist, kann nicht die Mitte sein. Das klingt paradox, ist aber plausibel.

Dass Politik „Mitte“ ist, muss an ihr selbst erkennbar sein, unabhängig von den Zustimmungswerten. Ihr Leitspruch ist die apollinische Weisheit von Delphi „Nichts im Übermaß“. Der Politik der Mitte ist jedes Extreme fremd. Sie ist immer behutsam, überfordert nicht, lässt die Dinge aber auch nicht unverändert. Sie will die Migration nicht stoppen, aber begrenzen, wenn die Gesellschaft überfordert wird. Sie will eine gendergerechte Sprache, besteht aber nicht auf grammatische Zumutungen, die die Verständigung behindern. Eine Politik der Mitte sucht Ausgleich auch dort, wo sie Wandel und Änderungen für notwendig hält – und das auch gegen den Druck von Mehrheiten. Wenn sich die Bedingungen ändern und sich Gefahren abzeichnen, versucht sie allerdings auch nicht, sich mit einem „Weiter so“ durchzuwursteln.

So gesehen ist eine Politik der Mitte tatsächlich selten geworden. Mag die CDU der 1970er die Vergangenheit bewahrt haben wollen, die FDP liberal und die SPD progressiv gewesen sein – sie alle verfolgten ihre Ziele „nicht im Übermaß“. Inzwischen scheint es nur Entweder-Oder zu geben. Genauer: Es gibt nur die extreme oder radikale Forderung zu einem Problem, oder die Behauptung, das Problem wäre gar nicht da. Die einen wollen die Migration radikal stoppen, die anderen sagen, es gäbe gar kein Migrationsproblem. Die einen wollen eine radikale Energiewende, um den Klimawandel zu stoppen, die anderen sehen keinen problematischen Klimawandel. Politik der Mitte ist beides nicht.

Wahrscheinlich sind diejenigen, die Politik zu ihrem Beruf gemacht haben, mit einer Politik der Mitte überfordert. Es hieße, anzuerkennen, dass es ein Problem gibt und zugleich zuzugeben, dass man es vermutlich nicht lösen kann, dass man es höchstens erträglich machen kann. Es hieße, nach neuen Lösungen zu suchen, abseits der radikalen Änderung des gegebenen und auch abseits der Ignoranz. Man müsste bereit sein, sich auf den Kompromiss einzulassen, auch wenn man ihn für unzureichend hält, man müsste bereit sein, an den eigenen Idealen zu scheitern.

Im Moment scheint es so, als ob die Gesellschaft zerrissen wird, weil keiner bereit ist, in der Mitte zu vermitteln. Aber „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ sagt Hölderlin. Wer weiß, vielleicht besinnen sich im großen Chaos, das gerade entsteht, auch die Zögerer und die nicht ganz Radikalen auf allen Seiten, dass es Zeit wird, nach Mittelmaßen zu suchen und erträgliche Mittelwege zu gehen – die führen in die Mitte friedlichen Gesellschaft.

 

Jörg Phil Friedrich studierte zuerst Physik und Meteorologie und später Philosophie. Er ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Heute arbeitet er zu Fragen der Religionsphilosophie, der Wissenschaftsphilosophie und der politischen Philosophie. Beim Verlag Karl Alber erschienen „Der plausible Gott“ und „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“

Kolumne Reflexe
In seiner Kolumne Reflexe gibt Jörg Phil Friedrich regelmäßig Anregungen zur philosophischen Reflexion, die auf alltäglichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen.

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