Quo vadis, Demokratie?
Georgiens Kampf um eine demokratische Zukunft

Quo vadis, Demokratie?
Georgiens Kampf um eine demokratische Zukunft

Zu sehen ist ein Banner vom Newsletter mit dem Beiträger Prof. Dr. David Aprasidze

Im Gespräch mit Prof. Dr. David Aprasidze

In unserem aktuellen Beitrag beleuchtet Prof. Dr. David Aprasidze, Politikwissenschaftler an der Ilia Staatlichen Universität in Tbilisi, die politische Lage in Georgien. Seit 2024 verschärfen sich Spannungen zwischen Regierung und Gesellschaft: Neue Gesetze schränken Bürgerrechte ein, Proteste dauern an, und die Regierungspartei „Georgischer Traum“ festigt ihre Macht zunehmend. Aprasidze ordnet ein, welche innen- und außenpolitischen Entwicklungen das Land prägen und welche Szenarien für die Zukunft der georgischen Demokratie denkbar sind.

Im Mai 2024 hat das Parlament das umstrittene Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet, was landesweit Proteste ausgelöst hat. Was sagt diese Entwicklung Ihrer Ansicht nach über das Verhältnis von Regierung und Gesellschaft in Georgien aus?

Das Parlament hat seit Frühjahr 2024 eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die bürgerliche und politische Rechte einschränken. Georgien wurde seit der Unabhängigkeit zwar stets als eine defekte, aber immerhin funktionierende Demokratie betrachtet – mit einer vielfältigen Zivilgesellschaft und konkurrierenden politischen Akteuren. Heute jedoch steht das Land in der Gefahr, sich in ein autoritäres System zu verwandeln: Einige führende Oppositionspolitiker wurden verhaftet, ebenso wie Aktivisten, die an den Protesten teilnahmen. Zudem wurden unangemessene Geldstrafen verhängt.

Die Proteste, vor allem in der Hauptstadt und in einigen anderen Städten, dauern seitdem ununterbrochen an. Zwar hat ihre Intensität inzwischen nachgelassen, doch verdeutlichen sie die tiefe Kluft zwischen Regierung und Gesellschaft.

Kritiker werfen der Regierung vor, mit diesem Gesetz vom proeuropäischen Kurs abzuweichen und sich stärker Russland zuzuwenden. Sehen Sie tatsächlich eine solche politische Neuausrichtung – oder ist das ein Missverständnis?

Die jüngsten politischen Entwicklungen in Georgien haben zwei wesentliche Dimensionen: eine innenpolitische und eine außenpolitische. Die Regierungspartei – Georgischer Traum –, die das Land seit 2012 führt und hinter der der reichste Georgier, der Oligarch Bidsina Iwanischwili (Gründer und Ehrenvorsitzender der Partei), steht, setzt alle Mittel ein, um ihre Macht zu sichern. Seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges 2022 instrumentalisiert die Partei auch das Kriegsthema. Sie wirft dem Westen – die führenden Politiker sprechen von einer „globalen Kriegspartei“ oder dem „Deep State“, also informellen Netzwerken, die die EU oder einzelne Staaten angeblich kontrollierten – vor, in Georgien eine zweite Front gegen Russland eröffnen zu wollen. Der Georgische Traum habe dies verhindert, behaupten sie. Deshalb wolle der Westen nun die Regierung stürzen und stattdessen die Opposition – angebliche eigene Agenten – an die Macht bringen. Mit anderen Worten: Der Georgische Traum stilisiert sich als Garant des Friedens, während ein Sieg der proeuropäischen Opposition gleichbedeutend mit Krieg dargestellt wird.

Schon vor den Parlamentswahlen im Oktober 2024 waren solche Vorwürfe gegen den Westen von Seiten der Politiker der Regierungspartei zu hören, und nach den Wahlen (die von westlichen Akteuren stark kritisiert wurden) haben sie sich noch intensiviert. Im November 2024 erklärte Premierminister Kobakhidze sogar, dass Georgien Beitrittsverhandlungen mit der EU vor 2028 nicht eröffnen wolle. Die Motivation des Georgischen Traums ist in erster Linie innenpolitisch (Machterhalt), doch hat dies klare außenpolitische Konsequenzen: Georgien besitzt zwar den Kandidatenstatus, ist aber von der EU so weit entfernt wie nie zuvor. Damit hat die Regierung das Land faktisch näher an Russland herangerückt.

Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ steht seit Jahren in der Kritik, die Gewaltenteilung auszuhöhlen und den Einfluss auf Medien und Justiz zu vergrößern. Wie bewerten Sie die tatsächliche Lage der demokratischen Institutionen?

Der Georgische Traum regiert seit 2012. Zunächst handelte es sich um eine Koalition mehrerer Parteien, und die ersten Jahre der Regierungszeit konnten noch als relativ offen gelten. Seit 2016 und besonders seit 2020 jedoch zeigen sich zunehmend Versuche, den politischen Raum zu den eigenen Gunsten zu steuern. Typisch für Regierungsparteien im postsowjetischen Raum dominiert der Georgische Traum die politische Landschaft sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene. Mit der Zeit brachte die Partei auch die Justiz unter ihre Kontrolle. Heute geraten unabhängige Medien und die Zivilgesellschaft ins Visier, um den Prozess der autoritären Konsolidierung abzuschließen. Anders gesagt: Der Georgische Traum dominiert seit Langem die staatlichen Institutionen und versucht nun, die übrigen demokratischen Akteure loszuwerden.

Das grundlegende Problem des georgischen Regierungssystems ist jedoch nicht nur das fehlende Gleichgewicht zwischen den Gewalten oder die Abwesenheit demokratischer Kontrolle, sondern die informelle Macht in Form der Oligarchie. Seit der Gründung der Partei ist jeder Minister, Abgeordnete und Politiker des Georgischen Traums letztlich Bidsina Iwanischwili gegenüber verantwortlich. Diese oligarchische Herrschaft hat sich lange Zeit als defekte Demokratie getarnt, war ihrem Wesen nach jedoch stets autoritär.

Die ehemalige Präsidentin Salome Surabischwili hatte sich am Ende ihrer Amtszeit mehrfach gegen die Linie der Regierung gestellt. Welche Bedeutung hat das Präsidentenamt derzeit im politischen Machtgefüge – kann es überhaupt noch als Gegengewicht wirken?

Salome Surabischwili war Präsidentin von 2018 bis 2024. Ihre Kandidatur wurde damals von Bidsina Iwanischwili und dem „Georgischen Traum“ unterstützt. In den letzten Jahren ihrer Amtszeit kritisierte sie jedoch zunehmend die Politik der Regierungspartei und stellte sich während der Parlamentswahlen im Oktober 2024 auf die Seite der Opposition. Die Ergebnisse dieser Wahlen wurden sowohl von der Opposition als auch von Surabischwili nicht anerkannt und sind auch international stark umstritten.

Im Dezember 2024 wurde der Präsident nicht mehr direkt vom Volk, sondern durch eine Wahlversammlung (bestehend aus Parlamentsmitgliedern und Vertretern der Kommunalräte) gewählt. Der neue – ebenfalls umstrittene – Präsident ist der regierungstreue Politiker Mikheil Kavelashvili. Damit hat der Georgische Traum das Präsidentenamt de facto übernommen, sodass es keine Rolle mehr als Gegengewicht im politischen System spielt.

Angesichts der politischen Spannungen, der Proteste und der Kritik aus der EU: Welche realistischen Szenarien sehen Sie für die Entwicklung der georgischen Demokratie in den kommenden Jahren?

Es lassen sich im Wesentlichen drei Szenarien für die Entwicklung der georgischen Demokratie skizzieren: Vertiefung des Autoritarismus – In diesem Szenario würde sich die Distanz zwischen Georgien und der EU weiter vergrößern, während das Land sich stärker an Russland annähert; Demokratischer Neustart – Möglich wäre ein solcher durch einen Machtwechsel, vorausgesetzt, es gelingt der bislang zersplitterten Opposition, ein tragfähiges Bündnis zu bilden; realistischer erscheint allerdings ein hybrider Mittelweg, bei dem die Regierung ihr autoritäres Vorgehen für internationale Anerkennung partiell mildert, etwa indem inhaftierte Politiker und Aktivisten freigelassen werden, und zugleich eine „transaktionale“ Außenpolitik betreibt. Entscheidend werden dabei sowohl die innenpolitischen Kräfteverhältnisse zwischen Regierung und Opposition sein als auch die Entschlossenheit der EU und der USA, Druck auf die georgische Regierung auszuüben. Hinzu kommt, dass der Ausgang des Ukrainekrieges beide Faktoren maßgeblich beeinflussen kann.

Unser Autor

David Aprasidze ist Professor für Politikwissenschaft an der Ilia Staatlichen Universität in Tbilisi, Georgien. Seine Forschungsinteressen umfassen politische Transformation, regionale Sicherheit und die Europäisierung in der östlichen Nachbarschaft der EU. Er ist Autor des bei Nomos erscheinenden Lehrbuchs „Das politische System Georgiens“.

 

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