Quo vadis, Demokratie?
Politischer Journalismus zwischen Reichweite und Recherche

Quo vadis, Demokratie?
Politischer Journalismus zwischen Reichweite und Recherche

Christian Nuernbergk und Jonas Schützeneder vor blauem Hintergrund

Politischer Journalismus unter Plattformdruck – wohin steuert die vierte Gewalt?

TikTok Instagram und Co. prägen zunehmend die politische Öffentlichkeit. Doch was bedeutet das für redaktionelle Unabhängigkeit, journalistische Standards und demokratische Diskurse? Prof. Dr. Jonas Schützeneder und Prof. Dr. Christian Nuernbergk analysieren im Interview die Spannungsfelder zwischen Reichweite, Fragmentierung und publizistischer Verantwortung – und erklären, warum gerade jetzt verlässlicher Journalismus unverzichtbar ist.

Inwiefern beeinflussen Algorithmen auf Plattformen wie X, TikTok oder Facebook die Themenauswahl und Berichterstattungslogik im politischen Journalismus? Und wie verhält sich dies zu einer Fragmentierung politischer Öffentlichkeit?

Nuernbergk: Algorithmen, die die „For You“-Empfehlungen bestücken, basieren häufig auf einer Vielzahl von Signalen. Hier fließt auch die frühere Interaktion mit bestimmten Inhalten und Quellen ein. Gerade bei neueren, wenig vernetzen Nutzer:innen ist der Einfluss plattformseitig generierter Vorschläge zusehends bedeutsam. Bei politischen Journalistinnen und Journalisten unterstelle ich dagegen, dass diese eher für sie relevante Quellensets abonniert haben und daher auch weiter diese Inhalte sehen. Da sich aber auch Politiker:innen an Plattformlogiken anpassen und Botschaften darauf zuschneiden, kann es zu indirekten Auswirkungen auf den Journalismus kommen. Ob algorithmisch hervorgehobene Themen journalistisch relevant sind, müsste in Redaktionen anhand journalistischer Kriterien, wie etwa anhand von Nachrichtenfaktoren, entschieden werden. Zur Fragmentierung: Angesichts der bereits bestehenden Zersplitterung von Öffentlichkeit sehe ich den Journalismus auch im Umfeld von Plattformen in einer Vermittlungsrolle: Er muss die Themen und Publika, die sich teils auf den Plattformen unabhängig voneinander entwickeln, zusammenführen. Das, was dann journalistisch herausgehoben wird, sollten die relevantesten und aktuellsten Fragen für viele Menschen sein. Wenn die Popularisierungslogik sozialer Medien dagegen ausschlaggebend ist, haben wir ein Problem.

Schützeneder: Das stimmt. Algorithmen sind letztlich ein mathematisches Instrument der Maximierung und Optimierung, wir können uns ihnen weder beruflich noch privat komplett entziehen. Die Erfahrungswerte aus privater Mediennutzung werden dann über die Zeit zwangsläufig auch beruflich mitgenommen. Journalistinnen und Journalisten wählen Themen, Zuschnitte und Zitate unter dem Eindruck eines scheinbar objektiven Belohnungssystems. Die zentrale Währung ist Reichweite, nachgelagert sind dann meist subjektive oder redaktionsinterne Relevanzkriterien. Auf der anderen Seite liefern Algorithmen dem Journalismus aber auch völlig neue Beobachtungsmöglichkeiten, beispielsweise durch Themen- oder Publikumsmonitoring.

Die Dynamik des politischen Journalismus nimmt enorm zu, was wiederum neue und verstärkte Hinwendung zu Recherche und permanente Überprüfung erfordert. Dahingehend hat sich politischer Journalismus in jedem Fall verändert, die journalistischen Angebote sind andererseits durch neue Kanäle, Formate und Interaktionsmöglichkeiten kleinteiliger und fragmentierter geworden. Die politische Öffentlichkeit ist entlang dieser vielfältigen Angebote, Themen und Rollen durchaus fragmentierter, gleichzeitig braucht dieses dynamische Umfeld eine zuverlässige Vermittlungsinstanz. Und das ist idealerweise hochwerter politischer Journalismus.

Welche Rolle spielen (semi-)journalistische Formate auf Plattformen wie YouTube oder Instagram im Vergleich zu klassischen politischen Medien, insbesondere mit Blick auf Meinungsbildung und die Verbreitung von Desinformation?

Schützeneder: Die Adaption journalistischer Rollen und Tätigkeiten ist auf den Plattformen gefühlt omnipräsent. Hier treffen (neue) Angebote und Nachfrage zusammen. In der aktuellen JIM-Studie sagen beispielsweise fast 40 Prozent der 12-19-Jährigen, dass sie via Instagram vom aktuellen Weltgeschehen erfahren. YouTube und TikTok erreichen ähnlich hohe Werte. Damit haben diese Plattformen traditionelle journalistische Kanäle längst überholt. Information und Meinungsbildung sind aber unterschiedliche Dinge: Die gleiche Studie zeigt, dass sich die junge Zielgruppe stark an Meinungen und Aussagen aus dem direkten sozialen Umfeld orientiert. Im Fokus stehen also die Peer Groups und gleichzeitig hat Forschung zu diesen Prozessen eine zentrale Herausforderung: Sie ist (medienpsychologisch) höchst anspruchsvoll und anfällig für Verzerrungen. Wer weiß schon selbst ganz genau, wie seine eigene Meinung entsteht? Und wer gibt freiwillig gerne zu, bei diesen Meinungsbildungsprozessen nicht komplett frei, sondern zumindest teilweise beeinflusst zu sein?

Nuernbergk: Generell ist die Präsenz des professionellen, redaktionsbetriebenen Journalismus auf allen Plattformen sehr wichtig. Denn es gibt jüngere Menschen, die bereits im wachsenden Maße soziale Medien als primäre Nachrichtenquelle nutzen. Findet Journalismus dort nicht statt, haben wir gerade mit jenen Gruppen ein Problem. Zugleich ist aber auch klar, dass auf die explizit journalistische Nutzung sozialer Medien nur ein Bruchteil ihrer täglichen Verwendung entfällt. Je nach Themen- und Ereignislage kann dies aber variieren. Also ist es wichtig, dass journalistische Marken dauerpräsent sind, um die Bindung zu ihrem Plattformpublikum zu verfestigen. Nachrichtenarme Nutzer:innen, die kaum Kontakt zu journalistischen Quellen haben, sind anfälliger für Meinungsmanipulation. Ihnen fehlt oft die Fähigkeit, Quellen kritisch zu reflektieren. Genau an dieser Sensibilisierung muss die Gesellschaft arbeiten. Sonst stoßen Desinformationen bei diesen Gruppen auf fruchtbaren Boden. Einflussreich sind auch Content Creators, die über ihr Netzwerk ansonsten nachrichtenarme Nutzer:innen noch erreichen. Diese geschickt in professionelle Medien einzubinden, wird zusehends wichtiger.

Wie verändert sich das professionelle Selbstverständnis von politischen Journalist:innen im Spannungsfeld zwischen Unabhängigkeit und Integrität auf der einen, und der Notwendigkeit, in sozialen Medien Reichweite zu generieren, auf der anderen Seite?

Nuernbergk: Das ist eine interessante Frage, zumal nicht übersehen werden darf, dass auf den Plattformen Journalismus nicht nur unter dem Dach von Medienmarken stattfindet. Vielmehr hat sich das ganze Feld individualisiert. Einzelne Journalist:innen haben mittlerweile hunderttausende Follower – allerdings sind dies noch wenige Ausnahmen. Die personeneigenen Profile bringen insgesamt mehr Unabhängigkeit mit sich und weniger redaktionelle Kontrolle. Außerdem gibt es keine festgelegten Formen wie „Bericht“ oder „Kommentar“. In den sozialen Medien kommt es zu mehr Wechselwirkungen, Journalist:innen lernen über das erhaltene Feedback zu ihren Postings auch, welche Inhalte sich auf der Plattform leichter popularisieren. In einem polarisierten Umfeld ist es für viele Journalist:innen nicht immer einfach, eigene Meinungen zurückzuhalten. Ein Teil der User erwartet sogar, dass Medienschaffende Position beziehen. Für Journalist:innen, die das tun, sollte meiner Ansicht nach immer die Regel sein, ihre Gründe transparent zu halten und deutlich zu machen,

Schützeneder: Unsere Fallstudie im Band Politischer Journalismus zeigt sehr deutlich, dass die so genannte „Watch-Dog-Rolle“ an Bedeutung zunimmt. Hier ist wirtschaftlich gesehen der Unique Selling Point des Politischen Journalismus: Das Wahlsystem erklären, eine Wahlempfehlung aussprechen oder aktuelle politische Vorschläge kritisieren können fast alle Online-Akteure. Den aktiven Gegenpol zu politisch und wirtschaftlich Mächtigen herstellen, mit Hintergrund-Recherche Verfehlungen und Geschäfte öffentlich machen – das ist die fast exklusive Leistung des politischen Journalismus und daher haben an dieser Stelle viele namhafte Marken in Deutschland und international ihre Bemühungen erfolgreich verstärkt.

Und Stichwort verstärkt: Deutlich stärker wird auch der Teamgedanke in den Investigativ-Teams forciert: Die großen und überaus komplexen Themen können meist nicht per Einzelleistung recherchiert werden. Teams über die Grenzen von Redaktionen und Ländern hinweg sind im Vorteil, können durch neue Kooperationstools ganz andere Aufgaben bewältigen als früher. Auch das ist ein deutlicher Hoffnungsschimmer für den Journalismus der nächsten Jahre.

Inwieweit gefährdet die zunehmende Verlagerung politischer Kommunikation in den digitalen Raum (z.B. exklusive Statements über Social Media) die intermediäre Rolle des politischen Journalismus in demokratischen Prozessen?

Nuernbergk: Die sozialen Medien haben schon dazu geführt, dass es eine Art Bypassing gibt, durch das journalistische Vermittler auch umgangen werden können. Ich halte das aber nicht für die dominante Strategie in der deutschen Politik: Vielmehr setzen Politikerinnen und Politiker hierzulande weiterhin darauf, dass ihre Äußerungen möglichst auch über etablierte Medien zirkulieren. Aber: Journalismus kann heute nicht mehr allein über das Themenangebot und die Sichtbarkeit von Positionen entscheiden. Neben dem Verlust der Gatekeeper-Rolle steht Journalismus insgesamt auf wackeligen Füßen: Wie kann Journalismus überleben, wenn Werbeeinnahmen nun woanders hinfließen, etwa an Plattformen, und auch die Zahlungsbereitschaft für Nachrichten weiter abnimmt? In diesem Umfeld ist es schwer, vernünftig recherchierende und berichtende Redaktionen in der Breite zu erhalten. Diese sozialen Folgen haben die Menschen zu wenig im Blick.

Schützeneder: Natürlich hat der politische Journalismus an Exklusivität eingebüßt. Aber ich sehe persönlich auch so langsam eine kleine Trendwende heraufziehen: Die pure Überflutung an PR-Inhalten über alle Kanäle löst bei vielen Menschen auch Beliebigkeit aus. Der Großteil der Bevölkerung kann durchaus zwischen werbender PR und journalistisch-recherchierten Inhalten unterscheiden. Auch deshalb sind journalistische Live-Interview-Formate nach wie vor überaus erfolgreich. Das konfrontative Interview ist eine Kunst und Verantwortung gleichzeitig, aber eben auch ein Beispiel dafür, dass der Journalismus nicht ersetzt werden kann.

​Wie kann politischer Journalismus in Zeiten von „Fake News“ und Desinformation seine Rolle als Vermittler von verlässlichen Informationen stärken und somit zur Stabilität der Demokratie beitragen?

Schützeneder: Durch Transparenz, Experimentierfreude und Interaktion: Gerade in den lokalen Räumen hat der politische Journalismus immer noch viel Alleinstellungsmerkmal. Diese Märkte sind für internationale Player uninteressant. Dabei wird der Großteil der Politik vor Ort diskutiert und gemacht. Lokale Räume und lokaler Journalismus sind die Basis der Demokratie und genau hier braucht es gute Vermittlung auf Augenhöhe und auch neue Formate, die den Journalismus als Vermittlungsplattform zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik noch deutlicher zur Geltung kommen lassen.

Nuernbergk: Definitiv: Journalismus wird gebraucht. Das zeigen die Diskussionen um die Abschaffung von Faktenchecks auf Plattformen. Das Prüfen von Informationen völlig den Nutzerinnen und Nutzern oder automatisierten Moderationssystemen von Plattformen zu überlassen, wird nicht funktionieren. Ein demokratiestützender Journalismus muss künftig mehr moderieren und Inhalte vernetzen. Gleichzeitig muss er transparenter werden, Belege für seine Aussagen mitliefern. Publikumsattraktivität ist ein weiterer Faktor. Die journalistischen Erzählweisen müssen sich auch an die neuen Plattformkontexte anpassen können. Es braucht künftig beides: kürzere, schnellere, visuellere Elemente aber auch die Langformen und Hintergründe. Denn das ist es, was Journalismus von anderen Beitragenden unterscheidet.

Unsere Beiträger

Prof. Dr. Christian Nuernbergk ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Trier. Sein Schwerpunkt ist öffentliche Medienkommunikation. Er analysiert die sich wandelnden Strukturen von Öffentlichkeiten und Journalismus durch soziale Medien und Plattformen. 

Prof. Dr. Jonas Schützeneder ist Professor für Digitalen Journalismus an der Universität der Bundeswehr München. In seiner Forschung beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Fragen rund Innovationen im Journalismus sowie der besonderen Bedeutung von Lokaljournalismus.