Recht ohne Zufall? Algorithmische Rechtsverwirklichung in der freiheitlichen Demokratie

Recht ohne Zufall? Algorithmische Rechtsverwirklichung in der freiheitlichen Demokratie

Header für das Thema Digitalrecht. Zu sehen ist der Autor Prof. Dr. Timo Rademacher vor einem blauen Himmel mit weißen Wolken.

von Prof. Dr. Timo Rademacher, MJur (Oxon)

Wir – als Gesellschaft – scheinen von der Befolgung und Durchsetzung des modernen Rechts überfordert. Überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, welch hohe Ansprüche wir an das Recht heute stellen: Es soll jedem Einzelfall gerecht werden, gleichzeitig eine immer komplexere, hochgradig arbeitsteilige Gesellschaft steuern. Schnell änderbar, da demokratisch, soll das Recht auch noch sein. Unser Rechtssystem, unsere Behörden, wir sind damit überfordert, die Verwirklichung des Rechts erscheint immer mehr als latent zufallsabhängig (Gertrude Lübbe-Wolff) bzw. als kontingent (Niklas Luhmann). In welch geringem Ansehen eine Rechtsordnung nach dem Zufallsprinzip allerdings steht, hat jüngst die kurze, aber erhitzte Diskussion um die Wehrpflicht nach dem Losverfahren gezeigt. Zu viel Zufall im Recht schadet.
 
Die Lösung für unser Problem scheint freilich naheliegend: Verspricht nicht künstliche Intelligenz, Wissen und alsbald auch darauf aufbauende physische Steuerung ubiquitär verfügbar zu machen, und somit potenziell – endlich – den Zufall aus der Befolgung und der Durchsetzung von Recht verdrängen zu können?

Das Optimierungsversprechen, oder: eine Typologie rechtsdurchsetzender Technologien

Wenn man diesem Optimierungsversprechen von KI nachspürt, dann zeigt sich schnell, dass es zu differenzieren gilt: Recht früh schon wurde kontrovers über Impossibility Structures (Michael L. Rich) diskutiert. Das sind Technologien, die Recht auch gegen den Willen eines Normadressaten physisch durchsetzen sollen. Ein vieldiskutiertes Beispiel hierfür sind Upload-Filter auf Online-Plattformen, die ehrverletzende oder terroristische Kommunikation blockieren. Das Datenschutzrecht fordert seine Bewehrung mit Impossibility Structures sogar umfassend ein (Art. 25 DSGVO). Es geht aber nicht nur um Zwang: Auf der gegenüberliegenden Seite des Spektrums liegt die Intelligent Surveillance, die genau das, aber auch nur dasjenige Verhalten melden soll, das verboten ist. Ein auch in Deutschland erlaubtes Beispiel hierfür ist die intelligente Videoüberwachung (§ 44 PolG BaWü). Noch eine Stufe ‚sanfter‘ scheinen die von mir sogenannten Compliance Assistance Technologies zu wirken, die nichts melden, sondern ‚nur‘ den eigentlichen Normadressaten informieren, dass sein Verhalten gerade rechtswidrig ist oder sein könnte.
 
Schließlich gibt es eine auch rechtstheoretisch hoch interessante Zwischenform der KI-assistierten Rechtsdurchsetzung, die ich als Justification Structures bezeichne: Technologien, die ähnlich wie Impossibility Structures funktionieren, die sich aber vom Rechtsunterworfenen selbst ‚abschalten‘ lassen – freilich um den Preis, dass beispielsweise der Rechteinhaber oder eine Aufsichtsbehörde über den Vorgang informiert wird. Der Rechtsunterworfene muss und darf sich dann rechtfertigen, beispielsweise argumentieren, warum seiner Meinung nach – so im Fall des deutschen Urheberrechts-Dienste-Anbietergesetzes – eine Schranke des Urheberrechts greift. Denkbar wären solche Technologien auch in anderen Rechtsgebieten, etwa im Straßenverkehrsrecht.

Die Grenzen der Optimierung: die Technik, Freiheit oder Demokratie?

Eine (zu) schöne neue Welt? Natürlich lässt sich dem Optimierungsversprechen sozusagen technologieintern widersprechen: Kann KI überhaupt Recht ‚richtig‘ auslegen oder gar anwenden? Meine Antwort (im Buch etwas ausführlicher): Noch nicht, aber es wäre gefährlich, sich allein auf die aktuelle Fehlerhaftigkeit von KI zu verlassen. Dafür war der Fortschritt, den KI in den vergangenen Jahren gemacht hat, zu schnell, zu gut. Und vor allem scheint mir wichtig zu bedenken, mit wem wir die Leistungsfähigkeit von KI-Rechtstechnologien vergleichen: Menschen, insbesondere rechtliche Laien, die vielfach Adressaten unseres modernen Rechts sind, sind auch keine perfekten Rechtsanwender, oder?
 
Daher weiter zur normativen Frage: Gibt es einen rechtlichen Grund, die Kontingenz der Rechtsverwirklichung, also bewusste oder unbewusste Rechtsverstöße, zu erhalten? Freiheit, so meine Argumentation im Buch, ist ein wichtiger Grund – aber ein Grund nur gegen Überwachung. Freiheit ist kein Grund, Maschinen zu verbieten bzw. nicht zu gebieten, gegen Rechtsverstöße helfend tätig zu werden, wenn und wo sie schon anwesend sind. Gegen Hilfe hilft auch das (Verfassungs-)Recht nichts. Dass es dennoch einen guten Grund gibt, in bestimmten Fällen die Möglichkeit für Rechtsverstöße auch in einer KI-Gesellschaft zu erhalten, hat daher wenig mit Freiheit, aber viel mit Demokratie zu tun. Dafür darf ich nun aber auf das Buch verweisen und freue mich gegebenenfalls über Ihre Zuschriften und Gedanken dazu.

Prof. Dr. Timo Rademacher MJur (Oxon) ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und das Recht der neuen Technologien an der Leibniz Universität Hannover. Seine Habilitationsschrift Recht ohne Zufall? Algorithmische Rechtsverwirklichung in der freiheitlichen Demokratie erscheint im Dezember 2025 im Nomos Verlag und wird open access verfügbar sein.