NOESIS
Mythisches Bewusstsein: die gefühlte Einheit von Zeichen und Sache

27.06.2025

NOESIS
Mythisches Bewusstsein: die gefühlte Einheit von Zeichen und Sache

Vor 100 Jahren erschien der zweite Band von Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ – eine der einflussreichsten kulturphilosophischen Schriften des 20. Jahrhunderts. In „Das mythische Denken“ untersucht Cassirer das Verhältnis des Menschen zur Welt auf einer fundamentalen Ebene: dem Mythos als Ursprung und dauerhafte Grundlage aller Kultur. Warum dieses Denken für Cassirer zentral ist und welche Relevanz es heute noch besitzt, erläutert die Philosophieprofessorin und Cassirer-Expertin Prof. Dr. Birgit Recki im Gespräch mit uns.

Im Gespräch mit Prof. Dr. Birgit Recki über Ernst Cassirer

Vor 100 Jahren erschien der zweite Teil von Ernst Cassirers Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Formen“. Band 2 trägt den Titel „Das mythische Denken“. Wieso misst Cassirer diesem Denken eine so große Bedeutung bei, dass er ihm im Jahr 1925 ein ganzes Buch widmet?

Für Cassirer ist das „mythische Denken“ – er spricht auch vom „mythischen Bewusstsein“ und von der „mythischen Lebensform“, und gleichbedeutend vom „Mythos“ – die elementare Schicht aller Kultur.
In der Einstellung auf die Wirklichkeit, die Cassirer in diesem Begriffsfeld untersucht, kennt das Bewusstsein (noch) keine Differenz zwischen Zeichen und Sache – also zwischen dem Namen und der Sache, dem Bild und der Sache. Habe ich den Namen, dann verfüge ich über die Sache, die er bezeichnet; habe ich das Bild, dann habe ich damit Macht über die Sache, die da abgebildet ist: So denkt der Mensch in der Einstellung des mythischen Bewusstseins. In einer späteren Schrift führt Cassirer das mythische Denken auf den physiognomischen Ausdruck zurück, der das menschliche Bewusstsein in allem so beeindruckt wie der Ausdruck eines menschlichen Gesichtes den anderen Menschen berührt und bewegt – und er legt Wert darauf, dass für das mythische Bewusstsein die ganze Welt in allen ihren Erscheinungen als Ausdrucksphänomen, und das heißt: als beseelt wahrgenommen wird. Das ist nur eine andere Beschreibung der intensiven emotionalen Beziehung, die den Menschen mit allen Dingen seiner Wirklichkeit verbindet. Das mythische Denken ist mit anderen Worten immer vor allem ein Fühlen.
Cassirer nennt das mythische Denken, den Mythos auch den „Mutterboden der Kultur“, und man muss diese Naturmetapher des Wachstums und der Fruchtbarkeit konsequent in allen ihren Aspekten ernst nehmen: Ebenso wie sich die Pflanzen, die in diesem Mutterboden wurzeln und gedeihen, nicht irgendwann einmal, wenn sie ihre volle Größe und Pracht erreicht haben, davon lösen und sich selbständig machen können, sondern auch als ausgewachsene Organismen auf die Verwurzelung im Boden angewiesen bleiben – so ist auch für die menschliche Kultur das mythische Bewusstsein eine elementare und bleibende Bedingung ihres Lebens.
Der Mythos lässt sich zwar in seiner reinen Form am besten an archaischen Kulturen studieren. Doch Cassirers These lautet nicht: Die Kultur war in ihren frühen Stadien auf das mythische Denken angewiesen und hat sich in ihrem Fortschritt davon gelöst, sondern vielmehr: Das mythische Denken ist das Element aller Kultur. Es hält sich durch auch in den Entwicklungsstadien der Kultur, in denen sich schon längst die Religion mit ihrer Unterscheidung von Glauben und Wissen, die Kunst mit dem ihre Gestalten begleitenden Bewusstsein vom ästhetischen Schein und die Wissenschaft mit ihrer aufs Ganze gehenden Rationalisierung ausgeprägt haben, ja bis in kulturelle Stadien, die von Wissenschaft und Hochtechnologie geprägt sind. – Exemplarisch für diese Einsicht: In seinem posthum erschienenen Buch The Myth of the State /Der Mythus des Staates (1946) untersucht Cassirer einige Züge der politischen Mythologie, mit welcher der moderne totalitäre Staat die Emotionalität seiner Bürger manipuliert.

Mythisches Bewusstsein, so erwähnten Sie einmal im Anschluss an Cassirer, ist besessen von der Macht der Bilder, der Namen und Emotionen. Wie ist in diesem Zusammenhang die Umbenennung des „Golf von Mexiko“ einzuordnen?

Gemeint ist damit eben die eingangs beschriebene Nicht-Differenz zwischen Zeichen und Sache. Das Bild oder der Name wird im mythischen Bewusstsein nicht als Distanzmedium wahrgenommen, dessen Gestaltung und Methode und damit: dessen Differenz zur dargestellten Sache überhaupt thematisierbar wäre. Das Bild, der Name ist die Sache in voller Präsenz und wirkt derart direkt auf die Emotion des Menschen.
Was die Umbenennung des „Golfes von Mexiko“ in „Golf von Amerika“ angeht – da kann man es natürlich bei der nüchternen Feststellung bewenden lassen: Es ist Ausdruck eines Machtanspruchs, wenn der Diktator einer Meereszone (oder auch einem Territorium, einer Landschaft) den Namen seines Landes aufprägen will. Zugleich aber tritt im Insistieren auf der Umbenennung als innere Verfassung dieses Machtanspruchs die naive, undisziplinierte Emotionalität des mythischen Bewusstseins zutage – in der Suggestion, man hätte das Gesicht der Welt verändert, wenn man einer ihrer Meeresstraßen den eigenen Namen aufzwingt. Hier ist das Bewusstsein besessen von der Macht des Namens.

Was bezeichnet Cassirer als „Symbolische Formen“ und inwiefern haben diese mit Freiheit zu tun?

„Symbolische Form“ ist der zentrale Begriff in Cassirers Philosophie der Kultur, und er liegt auf einer höheren Abstraktionsstufe, als wir das gemäß unserem alltäglichen Sprachgebrauch allein mit Blick auf den Wortlaut annehmen würden. Gemeint ist nicht der einzelne mit Bedeutung besetzte Gegenstand, sondern ein elementarer und unverzichtbarer Gestaltungsbereich der Kultur in seiner medialen Eigenart; wenn die Kultur als ein System von gleichermaßen grundlegenden und differenzierten Leistungen begriffen werden muss, dann sind die „symbolischen Formen“ dessen `Subsysteme´. Cassirer nennt in der Philosophie der symbolischen Formen durchweg die Sprache, den Mythos (verstanden wie eingangs erläutert als mythisches Denken, mythisches Bewusstsein, mythische Lebensform), die Religion, die Kunst, die Wissenschaft. Später fügt er unmissverständlich die Technik hinzu und zeichnet das Werkzeug als ebenso elementar aus wie das Wort der Sprache. Im Essay on Man (1944), seiner Einführung in die Kulturphilosophie für das amerikanische Publikum, nennt er auch die Geschichte (verstanden als Historie).
Diese symbolischen Formen sind für Cassirer ebenso viele Formen der menschlichen Freiheit. Denn die elementare geistige Leistung der Symbolisierung besteht in jedem einzelnen Fall darin, dass ein „konkretes sinnliches Zeichen“ mit einem „geistigen Bedeutungsgehalt“ verknüpft wird. Eben dadurch kommt Bedeutung in die Welt: Im vernetzten System der Bedeutungen schaffen sich die Menschen ihre Welt – die Kultur. Doch Cassirer belässt es nicht bei dieser Einsicht. Er legt Wert darauf, dass jeder Akt der Symbolisierung insofern ein Akt der Befreiung ist, als er mediale Distanz zur Unmittelbarkeit des bloßen Eindrucks schafft. Erst in dieser Distanz gewinnt der Mensch einen Aktionsraum der freien Verfügung über seine Eindrücke. Cassirer erläutert dies an einem exemplarischen Beispiel, an dem die elementare Funktion des sprachlichen Ausdrucks erkennbar wird: Wenn ein kleines Kind seine Angst vor fremden Menschen artikuliert, indem es die beruhigenden Worte der Erwachsenen als Beschwörungsformel aufgreift: „Keine Angst! Keine Angst!“ – dann ist dies der entscheidende Schritt zur Befreiung von der Angst. – Im Essay on Man geht Cassirer aufs Ganze in der These, die Kultur sei der „Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“.
Auch wenn sich Cassirer in der Darlegung seiner Theorie auf die positiven Funktionen der Kultur und damit auf deren Gelingen konzentriert, sollten wir dabei nicht übersehen, dass ihm im Blick auf den Ursprung der Kultur im menschlichen Handeln auch die Möglichkeit des Scheiterns bewusst ist.
Am Ende seiner Studie über den Totalitarismus heißt es: „Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die [sic!] wir sie einst hielten. […] Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können.“

 

 

Birgit Recki ist Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind systematisch in der Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie/Anthropologie, historisch im 18. Jahrhundert (Kant, Aufklärung) und in der Moderne (Neukantianismus, Kritische Theorie der Gesellschaft). Sie ist Herausgeberin der Ges. Werke Ernst Cassirers in 25 Bänden. 2024 erschien bei Karl Alber Kants Kritik der Vernunft als Theorie der Freiheit. Ein Parcours.

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