NOESIS
Philosophie und die Entdeckung des Selbstverständlichen

29.07.2025

NOESIS
Philosophie und die Entdeckung des Selbstverständlichen

Die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit zählt zu den zentralen Fragen der Philosophie. Besonders in der analytischen Tradition hat sich eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle der Sprache in der Erkenntnis und im metaphysischen Denken entwickelt. Wir haben mit Prof. Dr. Axel Hutter im Hinblick auf sein neues Buch „Sprachanalyse und Metaphysik. Eine Einführung in die moderne Philosophie“ (erschienen bei C.H.Beck) über zentrale Konzepte der Sprachanalyse, ihre Bedeutung für die Philosophie der Gegenwart und ihre Verbindung zur Metaphysik gesprochen.

Im Gespräch mit Prof. Dr. Axel Hutter über Sprachanalyse und Metaphysik

Ihr Buch ist keine (klassische) Einführung in die sprachanalytische Philosophie, wie jüngst ein Rezensent der Frankfurter Rundschau fälschlicherweise meinte, sondern stellt eine hochinteressante, verständlich geschriebene, grundlegende und überaus problemorientierte Entwicklungsgeschichte des modernen philosophischen Denkens im Zuge des „linguistic turn“ dar. Dabei kreist alles um die folgende Frage: Inwiefern kann die moderne Sprachphilosophie zu einer „neuen Metaphysik“ führen, wie Sie es in Ihrem Buch vorschlagen?

Ich bin dankbar, daß Sie diese Frage gleich am Anfang stellen. Denn Sie haben recht: Das Buch ist keine Einführung in dem Sinne, daß es einen möglichst vollständigen und zudem »neutralen« Überblick über das fragliche Sachgebiet bieten will. Das wäre auch gar nicht möglich oder wünschenswert. Denn jede »einführende« Auflistung von Einzelheiten muß am Ende doch unvollständig bleiben und die allzu große Zahl der Einzelheiten führt zusätzlich dazu, daß die Darstellung kurzatmig und oberflächlich wird.

Daher bin ich froh über Ihre geschilderte Leseerfahrung, weil sie zeigt, daß die ganz anders gelagerte Absicht des Buches gut nachvollziehbar ist. Es geht in der Tat um ein neues Verständnis der innovativen Errungenschaften der modernen, an der Sprache orientierten Philosophie. »Grundlegend« ist das angestrebte Verständnis deshalb, weil es das Projekt der modernen Philosophie als ein epochales Ereignis sehen läßt, das nicht nur eine Vergangenheit und eine Gegenwart, sondern auch eine Zukunft hat.

»Metaphysik« ist dabei das Leitmotiv dieses neuen Verständnisses der modernen Philosophie. Die Aufmerksamkeit auf die Sprache macht es nämlich dem heutigen Denken möglich, das Projekt der traditionellen Metaphysik in eine gänzlich veränderte Form zu übersetzen – und ihm gerade auf diese Weise treu zu bleiben.

Das Projekt der Metaphysik, so die These des Buches, bestand seit jeher darin, die Aufmerksamkeit des Menschen auf die großen Rätselfragen seiner Existenz wach zu halten. Metaphysik ist so die Gegnerin einer Tendenz im Menschen, gegenüber solchen Fragen gleichgültig zu werden. In der modernen Sprachphilosophie gewinnt diese Tradition die neue Form einer analytischen Kritik an der eigentümlichen Gleichgültigkeit der Sprache gegenüber, die kennzeichnend für unsere gegenwärtige Bewußtseinslage ist.

Sie betonen in Ihrem Werk insbesondere, dass das Metaphysische ‚offen vor unseren Augen‘ liegt, aber dennoch oft übersehen wird. Wie kann die Philosophie helfen, dieses Offensichtliche sichtbar zu machen? Und inwieweit ist dieser Beobachtung zufolge ein Fortschritt im philosophischen Denken dann überhaupt noch möglich?

Das sprachanalytisch erneuerte Verständnis der Metaphysik, für das mein Buch wirbt, hat das Selbstverständliche zum Thema. Die so verstandene Metaphysik untersucht also nicht – wie die empirischen Einzelwissenschaften – das Unbekannte oder Unvertraute, um es schrittweise zu erklären und vertraut zu machen, sondern das Bekannte, das vielleicht allzu Vertraute, um seine Fragwürdigkeit und Rätselhaftigkeit ins Bewußtsein zu heben.

Die eigentümliche Rätselhaftigkeit des Bekannten ist freilich eine, die uns erst einmal auffallen muß. Typischerweise gehen wir an vielen Rätseln vorbei, ohne sie zu bemerken, weil der fragliche Sachverhalt so vertraut ist, daß er von seiner vermeintlichen Selbstverständlichkeit gleichsam verborgen wird. Deshalb gehört es zur Aufgabe der Philosophie, sich darüber klar zu werden, daß die Sachlage häufig gar nicht so klar ist, wie wir es uns aus Gewohnheit und Bequemlichkeit einbilden.

Man braucht daher kein Fernrohr, keinen Teilchenbeschleuniger und auch kein außerordentliches Expertenwissen, um das zu verstehen, was die Philosophie darzustellen und aufzuklären versucht. Denn es ist das Alltägliche. Und das Alltägliche ist deshalb das Alltägliche, weil wir im Ernst nicht über es streiten können. Es liegt ja offen vor unseren Augen. Es bildet so die in der Regel übersehene Grundlage unserer strittigen Ansichten und Behauptungen. Sobald uns diese verborgene Grundlage aber einmal aufgefallen ist, sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, uns das Selbstverständliche klarzumachen, d.h. es zu verstehen.

Die Metaphysik wurde seit jeher von der richtigen Einsicht motiviert, daß es nicht nur einen einzigen, gleichsam monotonen Typ menschlichen Wissens gibt. Allerdings wurde die Ausnahme, welche die Regeln unseres gewöhnlichen Erkennens möglich macht, in der Tradition häufig in einem Jenseits der uns vertrauten Wirklichkeit gesucht. Dagegen läßt sich eine moderne, am Leitfaden der Sprache erneuerte Metaphysik als »Metaphysik des Diesseits« umschreiben.

Das kann man als einen Fortschritt verstehen, insofern jetzt auf einem neuen Weg das realisiert wird, was die Metaphysik seit ihren Anfängen gesucht hat, aber im Jenseits nicht finden konnte. Das kann man aber auch als Kritik an einem blinden Fortschrittsglauben verstehen, der sich nicht darauf besinnt, daß unser unentwegtes »Fortschreiten« womöglich von dem eigentlichen Thema der Philosophie wegführt: dem Rätsel des Selbstverständlichen, das immer schon vor unseren Augen liegt.

Offensichtlich sympathisieren Sie in Ihrem Buch mit Wittgensteins sprachtherapeutischen Ansatz. Ist Ihr Buch damit auch dem Versuch verpflichtet, die moderne Philosophie ein wenig zu therapieren? Woran „krankt“ die moderne Philosophie Ihrer Meinung nach und was ist das richtige Antidot gegen sprachliche und damit unsere Gedanken betreffende Verwirrungen und Unklarheiten?

Es ist richtig, daß mein Buch an Wittgensteins Konzept einer philosophischen »Therapie« anschließt. Wenn Wittgenstein sagt, der Philosoph behandle eine Frage wie eine Krankheit, dann zeigt er damit an, daß die Therapie unseres Denkens und Sprechens darin besteht, die Frage zum Verschwinden zu bringen – wie die Heilung die Krankheit zum Verschwinden bringt.

Ganz wichtig bei diesem Verständnis der Philosophie als einer »therapeutischen« Tätigkeit ist freilich die Einsicht, daß die Therapie die krankmachenden Einflüsse beseitigen und wohl auch einen Anstoß zur Heilung geben kann – die eigentliche Gesundung muß jedoch von den Selbstheilungskräften des Erkrankten geleistet werden. Eine Therapieform, die sich anmaßen würde, die ganze Heilung leisten zu können, wäre selbst ein Problem und keine Lösung.

Die metaphysischen Urphänomene – daß wir in der Welt und der Zeit leben, daß wir »ich« sagen können und als Personen frei sind – liegen zwar offen vor unseren Augen, doch sehen und verstehen wir sie für gewöhnlich nicht. Diese Verwirrung macht Philosophie als Therapie nötig. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß die Therapie nur möglich ist, weil die Urphänomene in ihrer jeweiligen Selbstverständlichkeit immer schon offen vor uns liegen.

Wittgenstein findet für diesen eigentümlichen Sachverhalt das treffende Wort der »Besinnung«. Das, was offen vor unseren Augen liegt und gerade deshalb nicht gesehen wird, ist etwas, worauf wir uns besinnen müssen. Ein solches Besinnen kann uns aber nicht von außen »gegeben« werden, wir können nur je selbst zur Besinnung kommen. Die Philosophie kann hierbei zwar die verwirrenden Einflüsse beseitigen und auch einen ersten Anstoß geben; das Entscheidende muß aber jeder selbst leisten.

Natürlich könnte man an Ihrem Buch kritisch einwenden, dass Sie bei Ihrer „Einführung“ auch einige Denkerinnen und Denker, die maßgeblichen Anteil an der Entwicklungsgeschichte der modernen Sprachphilosophie hatten, außen vor lassen – denken wir z.B. an Gilbert Ryle, John L. Austen oder an W.V.O. Quine. Sind diese Beiträge für Sie nur bedeutsame Randnotizen zu den revolutionären Ideen von Frege, Russell und Wittgenstein oder könnten sie Sie dazu verleiten, Ihre „Einführung“ noch einmal umzuschreiben?

Wie ich bereits eingangs gesagt habe, zeichnet sich m.E. eine gute »Einführung« dadurch aus, daß sie eine pointierte Auswahl trifft und dabei zeigt, warum diese Auswahl sinnvoll ist und hilft, das Ganze besser zu verstehen. Das heißt nicht, daß die Autoren, die nicht eigens erwähnt werden, deshalb irrelevant sind. Vielmehr lädt mein Buch gerade dazu ein, das von ihm exponierte Verständnis der modernen Philosophie an Denkern und Fragestellungen zu erproben, die in ihm nicht vorkommen.

Deshalb betont das Buch immer wieder, wie wichtig das Selbstdenken und das Selbstschreiben für ein angemessenes Verständnis der Philosophie ist. Philosophie ist eine Tätigkeit und eine Tätigkeit verstehen wir erst dann wirklich, wenn wir selbst tätig werden. Das Buch will dem Leser daher diese philosophische Tätigkeit nicht abnehmen, sondern in sie einführen, d.h. zu ihr anregen.

Insofern sind die von Ihnen angeführten »Leerstellen« des Buches als Anregungen zu verstehen, sie auf eigene Faust im Geiste des von mir entworfenen Programms der modernen Philosophie auszufüllen. Wenn sich dabei das Verständnis und Selbstverständnis der modernen Philosophie in einer überraschenden Weise vertieft, die ich gar nicht absehen kann – um so besser!

Ich glaube deshalb nicht, daß ich das Buch umschreiben sollte (allenfalls wäre in einer erweiterten Ausgabe ein Kapitel zu den metaphysischen Überlegungen von Saul Kripke zum Namen einzufügen). Statt es umzuschreiben, plane ich freilich, das Buch mit weiteren Büchern fortzusetzen, die den jetzt »eingeführten« Anfang auf je eigene Weise fortentwickeln.

Als Verlag Karl Alber versuchen wir durch verschiedene Publikationen immer wieder deutlich zu machen, dass die Kluft zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie nicht immer unüberbrückbar ist. Denken wir zurück an die Einhelligkeit Freges und Husserls in Bezug auf die Psychologismuskritik. Ist in diesem Sinne Ihr Buch als ein Beitrag zur Überwindung derartiger philosophisch-methodischer Grabenkämpfen zu verstehen?

Unbedingt! Das soeben zu den »Leerstellen« des Buches Gesagte will ich daher noch einmal etwas konkreter ausführen.

Das bereits erwähnte Motiv einer Metaphysik des Diesseits, die das scheinbar Selbstverständliche thematisiert, das offen vor unseren Augen liegt, kann im Hinblick auf die phänomenologischen Ansätze der Gegenwartsphilosophie bereichert werden, die das Wirkliche so beschreiben wollen, wie es sich selbst zeigt. Husserl und Heidegger, Bergson und Merleau-Ponty gewinnen womöglich ein neues und interessantes Profil, wenn sie dergestalt mit dem von mir »eingeführten« Ansatz in Verbindung gebracht werden.

Ebenso sind die modernen Sprachdenker zu nennen, die nicht in die orthodoxe Hauptlinie der analytischen Sprachphilosophie gehören: Buber, Rosenzweig, Lévinas.

Auf diese Weise könnten in der Tat die »philosophisch-methodischer Grabenkämpfe« überwunden werden, von denen Sie sprechen. Überwunden würde hoffentlich zugleich die eigentümliche „Provinzialität“ eines Denkens, das sich allein der antiquarischen Pflege und Kommentierung seines Lieblingsautors widmet und darüber die eigentlichen Sachfragen vergißt. Denn wer ausschließlich über diesen oder jenen Autor nachdenkt, kommt nicht mehr dazu, aber die Sache nachzudenken, über die der Autor selbst nachgedacht hat.

Was  an Ihrem Buch so fasziniert, sind die großen Linien, die es zieht. Heute besteht Philosophie ja oft aus kleinteiligem und hochspezialisiertem Denken, was auch zur Folge hat, dass kaum noch über das „Wesen“ der Philosophie bzw. des Philosophierens nachgedacht wird. Wie sehen Sie die Zukunft des akademischen Philosophierens in Zeiten funktionalistischen Denkens, der Wahrheitsskepsis und einem wachsenden Vertrauen in die „Intelligenz“ technischer Artefakte (Stichwort KI)?

Die Punkte, die Sie aufzählen, sind alle richtig. Freilich ist auch richtig, daß ein Unbehagen an einem allzu kleinteiligen und spezialisierten »Schulbegriff« die akademische Philosophie spätestens seit Kant ständig begleitet hat. Spätestens seit Kant ist es daher immer wieder neu die Aufgabe der Philosophie gewesen, sich ihren »Weltbegriff« klar zu machen, also dasjenige, was Kant zufolge jeden Menschen notwendig interessiert.

Die zunehmende Verschulung und auch Verwissenschaftlichung des Denkens in der Moderne sehe ich dabei durchaus optimistisch als neue Chance der Philosophie, sich auf ihre eigentümliche Aufgabe zu besinnen. Wenn immer deutlicher und erfolgreicher demonstriert wird, was empirische Wissenschaften zu leisten vermögen, dann wird auch immer deutlicher, wo die prinzipielle Grenze dieser Wissenschaften liegt; eine Grenze, die ein genuines Thema der Philosophie ist. Wenn immer deutlicher und erfolgreicher demonstriert wird, wozu maschinelle Algorithmen fähig sind, dann wird auch immer deutlicher, daß das humane Denken nicht mit einer geschickten Applikation von Algorithmen verwechselt werden darf.

Ich bin daher nicht überrascht, daß insbesondere jüngere Menschen, die sich mit der Philosophie auseinandersetzen, ein ganz neues und intensives Interesse an ihren »großen Fragen« und ihren »großen Linien« entwickeln. Sie sind in den Techniken der modernen analytischen Philosophie bestens geschult und verstehen gerade deshalb sehr gut, daß durch dieses Handwerkszeug die Frage nach dem »Wesen« der Philosophie noch gar nicht beantwortet ist.

Insbesondere an diese kommende Generation der Philosophierenden richtet sich mein Buch.

 

 

Axel Hutter ist Professor für Theoretische Philosophie an der LMU München. Er forscht und lehrt im Gebiet der neueren theoretischen Philosophie: in systematischer Hinsicht liegen seine Schwerpunkte in der Sprachphilosophie, Erkenntnis- und Rationalitätstheorie und Metaphysik; historische Schwerpunkte bilden die klassische deutsche Philosophie und die klassische analytische Philosophie. Seine Untersuchungen widmen sich der Ausarbeitung einer Narrativen Ontologie, die den Zusammenhang von Sinn (Sprache) und Sein (Welt) neu denkt, indem sie dem Sinn einen systematischen Vorrang vor dem Sein zuerkennt. Axel Hutter ist zudem Mitherausgeber der traditionsreichen Reihe Praktische Philosophie, die beim Verlag Karl Alber erscheint.

Mehr davon?
Unser Newsletter NOESIS versorgt Sie regelmäßig mit neuen Beiträgen, exklusiven Inhalten aus unserem Verlagsprogramm und aktuellen Hinweisen aus der philosophischen Community.
Für alle, die sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben.