Quo vadis, Demokratie?
Orbán unter Druck – Hoffnung für Ungarns Demokratie?

06.11.2025

Quo vadis, Demokratie?
Orbán unter Druck – Hoffnung für Ungarns Demokratie?

Zu sehen ist ein Banner vom Newsletter mit der Beiträgerin Dr. Melani Barlai

Im Gespräch mit Dr. Melani Barlai

Im aktuellen Beitrag unseres Newsletters Quo vadis, Demokratie? sprechen wir mit der Politikwissenschaftlerin Dr. Melani Barlai über die angespannte politische Lage in Ungarn. Ministerpräsident Viktor Orbán verliert an Zustimmung, während Péter Magyar als neue Oppositionsfigur an Profil gewinnt. Barlai erläutert, wie es um Medienfreiheit und Zivilgesellschaft steht, welche Rolle Ungarn in der EU und im Kontext des Ukraine-Kriegs spielt – und wo sich dennoch Hoffnungsschimmer für die ungarische Demokratie zeigen.

In den letzten Umfragen ist die Zustimmung zu Ministerpräsident Orbán gesunken, während sein Herausforderer Péter Magyar zunehmend an Profil gewinnt. Welche Rolle spielen wirtschaftliche Herausforderungen, wie Inflation oder steigende Energiepreise, für die Stimmung in der ungarischen Gesellschaft, und welche Chancen sieht die Opposition, Orbán bei den nächsten Wahlen herauszufordern?

Diese Krise trifft auf ein politisches System, das sich nicht über Nacht verändert hat, sondern schrittweise in eine Autokratie überführt wurde. Der Prozess begann als soft backsliding – eine langsame, oft übersehene Erosion demokratischer Institutionen und Normen. Ungarn wurde so zum Laboratorium illiberaler Politik: Strategien, die Orbán über Jahre verfeinert hat – etwa die Kontrolle über Medien, Justiz und Wahlrecht – dienen inzwischen als Blaupause für Politiker wie Donald Trump, Herbert Kickl oder Aleksandar Vučić. Ihre Versuche, den demokratischen Wettbewerb auszuhöhlen, können deshalb schneller und gezielter verlaufen, weil sie aus diesen ungarischen Erfahrungen gelernt haben.

Vor diesem Hintergrund wirkt die aktuelle wirtschaftliche Krise als Katalysator: Hohe Inflation und steigende Energiepreise haben die Kaufkraft massiv geschwächt. Hinzu kommt, dass eingefrorene EU-Gelder fehlen – vor allem auf dem Land, wo viele Fidesz-Hochburgen bisher stark von EU-geförderten Projekten profitiert haben. Das sorgt dort für wachsende Unzufriedenheit, insbesondere bei denen, die lange zu den Gewinnern von Orbáns System gehörten. Péter Magyar kann diese Stimmung aufgreifen: Er ist ein neuer Kandidat, gehört aber gleichzeitig zum inneren Zirkel und wirkt dadurch zunächst glaubwürdig. Seine größte Chance liegt darin, enttäuschte Nichtwähler und Nichtwählerinnen zu mobilisieren. Dennoch bleibt das Spielfeld ungleich: Fidesz kontrolliert Medien, Wahlrecht und Patronagenetz. Wenn es Magyar jedoch gelingt, wirtschaftliche Frustration und den Vertrauensverlust in Orbáns Machtapparat zu bündeln, könnte Orbán bei den nächsten Wahlen deutlich stärker unter Druck geraten.

Die ungarische Zivilgesellschaft und unabhängige Medien stehen unter starkem Druck. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage der Medienfreiheit, des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Rechtsstaatlichkeit, etwa im Hinblick auf Korruption oder Vetternwirtschaft, und gibt es Bereiche, in denen noch Handlungsspielräume bestehen?

Die Lage der ungarischen Zivilgesellschaft und der Medien bleibt äußerst angespannt. Mehr als 80 Prozent der Medienlandschaft stehen direkt oder indirekt unter der Kontrolle von Fidesz-nahen Eigentümern. Kritische Stimmen haben nur eine begrenzte Reichweite, was die öffentliche Debatte massiv verzerrt. Auch die Zivilgesellschaft ist Druck ausgesetzt: NGOs sind in ihrer Finanzierung eingeschränkt, müssen mit diffamierenden Kampagnen rechnen und werden durch bürokratische Hürden geschwächt.

Internationale Rankings bestätigen dieses Bild: Reporter ohne Grenzen stuft Ungarn in puncto Pressefreiheit als eines der Schlusslichter in der EU ein. Freedom House stuft das Land nur noch als „teilweise frei“ ein und laut Transparency International ist Ungarn der korrupteste EU-Mitgliedstaat. Korruption und Vetternwirtschaft, vor allem bei der Verteilung von EU-Geldern, sind für viele Bürger und Bürgerinnen inzwischen ein zentrales Problem.

Hinzu kommt, dass angeblich zur Verteidigung Ungarns Souveränität über Nacht erlassene Gesetze die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft weiter einschränken. Nun können staatliche Behörden, die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet sind, NGOs und oppositionelle Akteure unter dem Vorwand ausländischer Einflussnahme überwachen und einschüchtern. Dies bedeutet zwar keine offene Repression wie in Russland, jedoch eine schrittweise Aushöhlung der Freiheitsrechte durch permanente Drohkulissen.

Und dennoch gibt es Handlungsspielräume. Kleine, unabhängige Online-Medien, investigative Journalistinnen und Journalisten sowie lokale Initiativen leisten Widerstand – oft unter hohem Risiko. EU-Druck und internationale Aufmerksamkeit verschaffen zumindest einen gewissen Schutzraum.

Gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass uns der schmutzigste Wahlkampf der ungarischen Geschichte bevorsteht. Auf der einen Seite steht eine Regierungspartei mit praktisch unbegrenzten staatlichen und medialen Ressourcen, auf der anderen Seite stehen Opposition und Zivilgesellschaft, die unter massiv ungleichen Bedingungen um Gehör kämpfen – es ist ein klassisches David-gegen-Goliath-Szenario.

Ungarns Politik gegenüber dem Ukraine-Krieg wird oft als russlandfreundlich wahrgenommen. Inwiefern ist diese Haltung eine Folge von Orbáns persönlicher Politik, wirtschaftlichen Interessen wie der Abhängigkeit von russischem Gas oder innenpolitischen Erwägungen? Welche Auswirkungen hat dies auf die europäische Sicherheit?

Die Politik Ungarns gegenüber dem Ukraine-Krieg ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Einerseits entspricht sie Orbáns persönlicher Linie: Er inszeniert sich als „unabhängiger“ Akteur, pflegt seit Jahren enge Beziehungen zu Putin und sucht bewusst die Konfrontation mit Brüssel. Hinzu kommen wirtschaftliche Interessen. So ist Ungarn stark von russischem Gas und Öl abhängig und auch Projekte wie das Atomkraftwerk Paks II binden Budapest an Moskau. Orbán nutzt diese Energieabhängigkeit, um sich innenpolitisch als Garant niedriger Preise und somit als „Beschützer der Bevölkerung“ darzustellen. Diese Politik hat auch eine identitätspolitische Dimension: Orbán greift die Verunsicherung vieler Menschen angesichts des Krieges auf, verspricht Stabilität und spielt zugleich das Narrativ der nationalen Souveränität gegen die EU aus.

Vor diesem Hintergrund wirkt seine Nähe zu Russland historisch besonders absurd: 1956 stand Ungarn für den Aufstand gegen die sowjetische Unterdrückung und 1989 profilierte sich Orbán als junger Politiker mit einer kämpferischen Rede gegen die sowjetische Besatzung.

Für die europäische Sicherheit bleibt dies riskant, da Ungarn regelmäßig Entscheidungen blockiert und verzögert, die Geschlossenheit von EU und NATO schwächt und damit Moskau in die Hände spielt.

Trotz der Herausforderungen gibt es immer wieder Anzeichen für gesellschaftlichen Widerstand und demokratisches Engagement. Welche Hoffnungsschimmer, etwa durch politisch aktive junge Menschen oder neue Formen des Engagements, sehen Sie für die Zukunft der ungarischen Demokratie?

Trotz des eingeschränkten politischen Umfelds lassen sich in Ungarn nach wie vor Formen des demokratischen Engagements beobachten. Dazu zählen lokale Initiativen in Gemeinden und die Arbeit unabhängiger Medien. Diese Akteure verdeutlichen, dass es gesellschaftlichen Widerstand gegen illiberale Tendenzen gibt, auch wenn die Handlungsspielräume begrenzt sind.

Für eine nachhaltige demokratische Erneuerung wären jedoch tiefgreifende strukturelle Veränderungen erforderlich. Dazu gehören eine Stärkung zentraler öffentlicher Sektoren wie Bildung, Forschung und Gesundheit, die Förderung zivilgesellschaftlicher Teilhabe, eine konsequente Antikorruptionspolitik und nicht zuletzt die Wiederherstellung fairer politischer Wettbewerbsbedingungen. Dies betrifft sowohl institutionelle Fragen, beispielsweise das Wahlrecht und den Medienzugang, als auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Praktiken wie Klientelismus oder informellen Hierarchien.

In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat nicht nur das institutionelle Gefüge gelitten, sondern auch die normative Grundlage demokratischer Kultur. Deren Wiederaufbau wäre eine zentrale Aufgabe für jede zukünftige Regierung.

 

Unsere Beiträgerin

Dr. Melani Barlai ist Politikwissenschaftlerin an der Andrássy Universität Budapest. Sie ist Mitbegründerin der NGO Unhack Democracy. Melani Barlai forscht zur Politischen Bildung in Ungarn sowie der Integrität der Wahlprozesse, den Politischen Parteien und Wahlsystemen in Europa.

 

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