Quo vadis, Demokratie?
Perspektiven zur Stärkung der Demokratie

08.08.2025

Quo vadis, Demokratie?
Perspektiven zur Stärkung der Demokratie

Wie Demokratien neuen Halt finden können – im Gespräch mit Dr. Simon Bein

Vertrauensverlust in Institutionen, der Aufstieg populistischer Bewegungen und ein zunehmender globaler Systemkonflikt zwischen Demokratien und Autokratien stellen zentrale Herausforderungen für politische Ordnungen weltweit dar. Wie können Demokratien auf diese Entwicklungen reagieren, ohne ihre eigenen Prinzipien zu untergraben? Welche Verantwortung tragen sie angesichts globaler Rückschritte in der Demokratisierung?

Über diese und weitere Fragen spricht Dr. Simon Bein im Interview. Er ist Politikwissenschaftler und Co-Autor des neuen Lehrbuchs Vergleichende Demokratieforschung, das einen umfassenden Einblick in zentrale Konzepte, Methoden und aktuelle Problemlagen der Demokratieforschung bietet.

In vielen westlichen Demokratien beobachten wir einen Vertrauensverlust in staatliche Institutionen und (v.a. öffentlich-rechtliche) Medien. Welche strukturellen Reformen oder neuen Ansätze sehen Sie, um dieses Vertrauen nachhaltig zurückzugewinnen – insbesondere im Hinblick auf politische Bildung und Transparenz?

Das Vertrauen in sie selbst und ihre Institutionen ist ein Grundpfeiler stabiler Demokratien. Bei einigen Institutionen ist das Vertrauen schon seit zwei, drei Jahrzehnten sehr gering, vor allem bei den politischen Parteien. Anderen Institutionen, insbesondere jenen mit einer überparteilichen Stellung (z.B. Verfassungsgerichten), wird häufig mehr Vertrauen entgegengebracht. Aber es stimmt nicht, dass das Vertrauen in alle staatlichen Institutionen systematisch und über alle westlichen Demokratien hinweg zurückgeht. In Neuseeland, Deutschland und der Schweiz beispielsweise ist das Vertrauen in die Regierung der letzten Umfrage des World Values Survey zu folge deutlich höher als vor 25 bis 30 Jahren. In Spanien und den USA sind allerdings deutliche Rückgänge erkennbar. Das Vertrauen in das Parlament ist in den USA und Spanien ebenfalls erheblich gesunken. Gegensätzliche Entwicklungen mit Vertrauenszuwächsen in die Parlamente in Kanada, Deutschland, den Niederlanden oder Schweden zeigen auch hier die Vielfalt der empirischen Befunde.

Gleichwohl bilden diese Werte nur den Durchschnitt einer Gesellschaft ab. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich durch die wachsende Polarisierung die politischen Ränder weiter voneinander entfernen. Hierzu tragen insbesondere die sozialen Medien bei. Während etablierte und öffentlich-rechtliche Medien in dieser Polarisierungsspirale als Teil der Elite gelten, inszenieren populistisch-autoritäre Akteure in den sozialen Medien bewusst eine Gegenöffentlichkeit. Durch die technischen Algorithmen und den Echokammern-Effekt verstärkt sich somit die wachsende Distanz zwischen den politischen Lagern und auch der Bürgerinnen und Bürger zum politischen System. Klassische Medien, aber auch integrative Großparteien, Gewerkschaften und Verbände verlieren ihre Vormachtstellung als intermediäre Akteure zunehmend. Durch die sozialen Medien findet politische Kommunikation direkt, zuspitzend und emotionalisiert statt. Vermittelnde Pufferzonen gehen verloren. Insofern wird das Vertrauen in staatliche Institutionen und auch die Medien stärker davon beeinflusst, auf welcher Seite der neuen Konfliktlinie zwischen einem autoritären Populismus und den verbliebenen Parteien der demokratischen Mitte die Bürgerinnen und Bürger stehen. Die Medien sind also Teil eines Großkonfliktes geworden, in dem letztlich unterschiedliche Politik- und Demokratieverständnisse aufeinanderprallen.

Strukturelle Reformen müssen daher eher bei den Kontextfaktoren ansetzen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen anfälliger für populistische Instrumentalisierung und Kritik an der Demokratie und ihren Institutionen machen. Die politische Kommunikation der Regierungen, Parteien und ihrer Politikerinnen und Politiker muss sich dahingehend ebenfalls verbessern wie die Bereitschaft zur Ambiguitätstoleranz jedes und jeder Einzelnen. Öffentlich-rechtliche Medien müssen den Spagat meistern, ausgewogen und differenziert zu berichten. Politische Themen sind aus der Bandbreite demokratischer politischer Perspektiven heraus zu beleuchten und gleichzeitig sind demokratiegefährdende Positionen einzuordnen und ggfs. zu berichtigen. Ein hohes Maß an Transparenz ist dabei unumgänglich. Auch um gewisse Qualitätsstandards für die Diskussion auf den sozialen Plattformen wird man nicht herumkommen, wenn auch die Grenzen im Rahmen der Meinungsfreiheit nicht zu eng gesetzt werden dürfen.

Nichtsdestotrotz wird all das alleine nicht das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen wieder erhöhen. Der Vertrauensverlust ist das Resultat konkreter Schwächen der liberalen Demokratien in den letzten dreißig bis vierzig Jahren. Diesen muss mit konkreter Problemlösungskapazität und alltäglicher Erfahrbarkeit demokratischer Politik begegnet werden.

 

Der Aufstieg populistischer Bewegungen und die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung sind keine neuen Phänomene, scheinen sich aber weiter zu verschärfen. Aktuell hat die fehlgeschlagene Wahl neuer Verfassungsrichter zu einer größeren Debatte geführt. Wie kann eine Demokratie auf diese Entwicklungen reagieren, ohne selbst illiberale Züge anzunehmen?

Zunächst einmal ist es wichtig, sich auch hier die Vielfalt wissenschaftlicher Befunde vor Augen zu halten. Erstens ist mit Blick auf die jüngere Vergangenheit die gegenwärtige Polarisierung in vielen Gesellschaften nicht außergewöhnlich (in anderen aber schon). Nach der Messung von Varieties of Democracy (V-Dem) lag die Polarisierung in den 1970er-Jahren (zum Beispiel in Italien oder Deutschland) schon einmal auf einem ähnlichen Niveau. Bedenkenswert sind die Anstiege vor allem in den USA; aber auch in Skandinavien beispielsweise wächst die Polarisierung.

Zweitens sind wir insbesondere in Deutschland von einer Situation, in der zwei vollkommen voneinander getrennte Gruppen sich gesellschaftlich, politisch und ökonomisch unversöhnlich gegenüberstehen, weit entfernt. Hier wird häufig darauf verwiesen, dass eher eine Verhärtung der Ränder zu beobachten ist. Als relativ homogene Elektorate können diesbezüglich primär die Wähler und Wählerinnen der Grünen und der AfD gelten. Bei vielen Themen, zum Beispiel dass der Klimawandel ein Problem darstellt, ist sich eine große Mehrheit relativ einig (nur über die richtigen Lösungen wird und soll dann eben gestritten werden).

Drittens, und das ist für die Frage nach der Reaktion einer Demokratie auf diese Entwicklungen relevant, ist es nicht ganz klar, ob Polarisierung lediglich aus der Gesellschaft heraus auf die Politik wirkt oder zu einem erheblichen Teil von Polarisierungsunternehmern hervorgerufen und verstärkt wird. Einige wenige Triggerthemen bestimmen die öffentliche Diskussion und rufen das Bild der Spaltung hervor, einzelne Parteien und Politiker instrumentalisieren diese Aufregung dann gezielt. Steffen Mau und Kollegen haben das in ihrem vielbeachteten Buch zu den „Triggerpunkten“ für Deutschland gezeigt.

Das Beispiel der gescheiterten Verfassungsrichterwahl verdeutlicht, dass Demokratien zwar institutionelle Reformen vornehmen können, um ihre politische Ordnung zu schützen, deren Erfolg aber maßgeblich vom Verhalten der Akteure abhängt. Ob die Zweidrittel-Mehrheit für die Bestimmung neuer Richterinnen und Richter nun im Grundgesetz verankert wird oder nicht, löst nicht das Problem des verantwortungsvollen Umgangs der politischen Parteien mit den Spielregeln der Demokratie. Wenn einzelne Politiker und Politikerinnen ein Scheitern des Verfahrens und damit einen enormen Vertrauensverlust in Kauf nehmen, um sich selbst zu profilieren und einen individuellen Vorteil zu verschaffen, verletzt das die demokratische Leitplanke der „institutionellen Zurückhaltung“, wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt das bezeichnet haben. Nicht alles, was formal möglich ist, sollte in einer Demokratie auch tatsächlich ausgeschöpft werden. Die Demokratie hängt von der Einhaltung auch informeller Spielregeln, Abmachungen und Begrenzungen ab. Dies mit institutionellen Vorkehrungen zu erzwingen, dürfte auf Dauer wenig Erfolg haben.

 

Angesichts zunehmender innenpolitischer Herausforderungen richten viele westliche Demokratien derzeit den Fokus verstärkt auf ihre eigenen Probleme. Wie können sie dennoch verhindern, dass demokratische Fortschritte in Entwicklungs- und Schwellenländern in Asien, Afrika oder Südamerika wieder verloren gehen – und welche Verantwortung tragen sie in der globalen Demokratieförderung heute noch?

In einer einzigartigen Weise merken wir seit mehreren Jahren die Überlappung innen- und außenpolitischer Konflikte und Konfliktlinien. Während die optimistische Modernisierungstheorie der 1960er Jahre annahm, dass sich Gesellschaften durch die Ausbreitung individueller, postmaterieller und emanzipativer Werte demokratisieren (und dies entsprechend für die Erklärung fehlender Demokratisierung in anderen Gesellschaften herangezogen werden kann), sind westliche Gesellschaften in sich selbst zu einem Spiegelbild dieses Konfliktes geworden. Die Globalisierungsfolgen, jahrzehntelange Vorherrschaft des Liberalismus amerikanischer Prägung und Vernachlässigung sozialer Politikfelder erzeugten einen Cultural Backlash, wie Ronald Inglehart und Pippa Norris es genannt haben. Daher ist das Aufkommen des Rechtspopulismus als innenpolitische Herausforderung mit dem Erstarken autoritärer Regime als außenpolitische Herausforderung verbunden. Die Sympathien einiger rechtspopulistischer Politikerinnen und Politiker für Putin, Xi oder sogar Kim Jong-un sind dafür deutlichstes Anzeichen.

Die Demokratien haben ihre Hegemonie auf den Zukunftsoptimismus verloren, Autokraten versprechen Wohlstand und Sicherheit ohne die angeblichen kulturellen Verwerfungen des Westens, dafür in Verbindung mit einer starken Nation und der Bewahrung von Tradition. Insofern haben die Demokratien auch ihre Vormachtstellung bei der Entwicklungspolitik verloren, Autokratien wie China sichern sich ihren globalen Einfluss durch weltweite wirtschaftspolitische soft power. Externe Autokratieförderung, durch die genannte soft power oder aber harte sicherheitspolitische Bedrohungen (Geheimdienstaktivitäten, digitale Beeinflussung von Wahlkämpfen etc.) tritt hier als neues Themenfeld in Erscheinung. Dazu passt es, dass die Zahl der Autokratien weltweit die Zahl der Demokratien erstmals wieder überholt hat. Vor allem der Graubereich zwischen elektoralen Demokratien und elektoralen Autokratien gewinnt hier an Bedeutung.

Dies zeigt, dass externe Demokratieförderung erst recht wichtig wäre, um stagnierende Demokratisierungsprozesse zu stärken und den Rückfall hin zur Autokratie in vielen Staaten zu verhindern. Andererseits ist durch die Überlappung des neuen globalen Systemkonfliktes zwischen Autokratien und Demokratien, zwischen verschiedenen Demokratieverständnissen (zum Beispiel mit der nicht-westlichen und nicht-liberalen ‚Demokratie‘ in Ungarn) auch die innenpolitische Akzeptanz und Legitimation von Demokratieförderung und Entwicklungspolitik gesunken. Die aufgeregte Debatte um die deutsche Förderung von Fahrradwegen in Peru hat das gezeigt. Wenn innenpolitische Verteilungskämpfe zunehmen, sind diese Ausgaben die ersten, die hinterfragt werden. Der amerikanische Protektionismus unter Trump mit Strafzöllen und der Ausstieg aus UNESCO und Pariser Klimaschutzabkommen stehen dafür ebenfalls exemplarisch.

 

Vor dem Hintergrund der ideologischen Verschiebungen in den USA unter Donald Trump – mit einer wachsenden Nähe zu autoritären Positionen – rückt Deutschland verstärkt als zentrale Stimme demokratischer Werte in den Fokus. Welche Verantwortung kommt Deutschland in dieser Situation zu, und wie kann es diese Rolle wirksam ausfüllen – außenpolitisch, aber auch als Vorbild im Innern?

Bei aller Kritik am Zustand westlicher Demokratien: Deutschland hat nach den Bundestagswahlen 2025 einen friedlichen Machtwechsel erlebt, die Parteien haben trotz eines in Teilen harten Wahlkampfes zusammengefunden und relativ schnell eine Regierung bilden können. Das Bild, das Deutschland als eine der wichtigsten etablierten Demokratien abgeben sollte, ist eben das einer Demokratie, die demokratischen Streit austrägt und aushält, aber die Spielregeln dieses Wettbewerbes einhält. Insofern war das Scheitern der Neubesetzung des Bundesverfassungsgerichtes allerdings kein gutes Zeichen. In den USA war am Ende der Amtszeit Obamas ebenfalls ein Streit um die Neubesetzung des Supreme Courts entbrannt, der im Nachhinein als Vorbote für die Missachtung demokratischer Spielregeln unter Trump gesehen werden kann. Gleichwohl hängt nun vieles davon ab, ob kleinteilige Grabenkämpfe vermieden werden können, inhaltlich und in der politischen Kommunikation, und innenpolitisch schrittweise zur Lösung dringender politischer Probleme beigetragen werden kann. Außenpolitisch ist die Verkörperung demokratischer Werte immer schon ein zweischneidiges Schwert, da Demokratien auch von der wirtschaftlichen und diplomatischen Zusammenarbeit mit weniger demokratischen Staaten abhängig sind und dies in Zukunft wohl auch bleiben werden.

Unser Autor

Dr. Simon Bein ist Politikwissenschaftler und Akademischer Rat auf Zeit an der Universität Regensburg, wo er zur Krise und Marginalisierung politischer Parteien habilitiert. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Würzburg und Bologna sowie Demokratiewissenschaft an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind moderne Demokratietheorien, die empirisch-vergleichende Demokratieforschung, die Krise politischer Parteien sowie das politische System Italiens. 

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