NOESIS
Kapitalismus und die Frage nach der Moral

04.11.2025

NOESIS
Kapitalismus und die Frage nach der Moral

Zu sehen ist ein Banner vom Newsletter Noesis mit dem Beiträger Prof. Dr. Ludger Heidbrink

Was bleibt vom Kapitalismus, wenn man nach seinen moralischen Grundlagen fragt?
Im aktuellen Beitrag unseres Philosophie-Newsletters NOESIS spricht Prof. Dr. Ludger Heidbrink über die ethischen Voraussetzungen unserer Wirtschaftsordnung – über Märkte, die moralische Spielregeln brauchen, und Individuen, die sie mit Leben füllen. Die Wirtschaftsphilosophie, so sein Plädoyer, ist kein bloß theoretisches Unternehmen, sondern ein Schlüssel, um das Verhältnis von Wirtschaft, Ethik und Gesellschaft neu zu begreifen.

Im Gespräch mit Prof. Dr. Ludger Heidbrink

Lieber Herr Prof. Heidbrink, Sie geben seit Kurzem bei Karl Alber eine Schriftenreihe zur Wirtschaftsphilosophie heraus: Welche Themen behandeln Sie darin oder planen Sie darin zu behandeln?

In der Reihe ist zuletzt ein Band zu wirtschaftsphilosophischen Fragen der Digitalisierung erschienen. Als Nächstes soll ein Band zu dem Thema „Der Markt und die Tugenden“ erscheinen. Dabei geht es um die tugendethischen Grundlagen des Kapitalismus – ein hochaktuelles Thema. Geplant ist anschließend ein Reader mit Grundlagentexten zur Wirtschaftsphilosophie, der für Studierende genauso wie interessierte Leserinnen und Leser geeignet ist, die sich einen wirtschaftsphilosophischen Überblick verschaffen wollen. In der Reihe sollen in Zukunft auch herausragende Qualifikationsarbeiten und Klassiker der Wirtschaftsphilosophie erscheinen, die vergriffen sind oder neu herausgegeben werden sollen.

Worin bestehen für Sie die Unterschiede zwischen einer Wirtschaftsethik und einer Wirtschaftsphilosophie?

Die Wirtschaftsethik befasst sich in der Regel aus einer normativen Perspektive mit ökonomischen Fragen. Im Unterschied dazu geht die Wirtschaftsphilosophie stärker metaethisch und analytisch vor. Sie fragt zum Beispiel nach den normativen und epistemologischen Grundannahmen, die in der Wirtschaftsethik verwendet werden, oder befasst sich mit den Theorien, Modellen und Begriffen, auf denen wirtschaftsethische Ansätze beruhen. Darüber hinaus spielen die Ideengeschichte der Wirtschaft und die soziokulturellen Grundlagen wirtschaftlicher Systeme eine zentrale Rolle. Unter Wirtschaftsphilosophie verstehe ich insgesamt einen integrativen Ansatz, der Fragen der Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftsethik, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftskultur umfasst.

Was denken Sie: Sollte wirtschaftliches Handeln moralische Grenzen haben, und wenn ja, wer legt diese fest – Märkte, Staaten oder Individuen?

Wirtschaftliches Handeln sollte auf moralischen Grundlagen beruhen. Von Grenzen würde ich nicht sprechen, sondern von gemeinsamen Regeln, an die sich Marktteilnehmer oder Vertragspartner halten. Diese Regeln beruhen ihrerseits auf gesellschaftlichen Konventionen und moralischen Normen. Beides wird nicht festgelegt, sondern entwickelt sich in einem permanenten Verhandlungsprozess. Die moralischen Grundlagen der Wirtschaft werden nicht durch, sondern zwischen Individuen, Märkten und Staaten ausgehandelt, wie sich dies zuletzt beim Lieferkettengesetz beobachten ließ, das aufgrund regulatorischer Mängel nachgebessert werden musste. Märkte brauchen ethische Spielregeln, diese müssen aber auf die beteiligten Akteure und deren Bedürfnisse abgestimmt werden. Die Regeln dürfen vom Staat nicht vorgegeben werden, sondern sollten sich aus der moralischen Praxis der Wirtschaft ergeben. Eine moralische Ökonomie beruht auf der klugen Kombination aus ethischen Werten, wirtschaftlichen Anreizen und staatlichen Rahmenregeln.

Gewinnstreben ist sowohl ein notwendiger Motor gesellschaftlichen Fortschritts als auch Ursache sozialer Ungerechtigkeit: Stimmen Sie dieser Einschätzung zu? Welchen Beitrag kann die Wirtschaftsphilosophie leisten, um solche Dynamiken besser zu verstehen und Möglichkeiten zu entwickeln, um gesellschaftspolitische Verwerfungen zu vermeiden?

Die wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland hat nach den neuesten Zahlen abgenommen, ist aber immer noch hoch. Globalhistorisch betrachtet ist der Kapitalismus, bei allen negativen Auswirkungen, eine Erfolgsgeschichte: Die Armut wurde verringert, die Löhne erhöht, die Arbeitszeit verkürzt, Gesundheit und Lebenserwartung wurden verbessert, der Wohlstand gesteigert. Zugleich sind die Umweltbelastungen gestiegen, beschleunigt sich der Klimawandel, nehmen Wirtschaftskrisen zu. Das Gewinnstreben ist Motor des Fortschritts, aber auch Ursache von Ungleichverteilung, Marktversagen und Systemrisiken. Die Wirtschaftsphilosophie kann dazu beitragen, die Komplexität dieser Prozesse besser zu verstehen und zu differenzierten Diagnosen zu gelangen. In meinen Augen besitzt die Wirtschaftsphilosophie den Vorteil ideologischer Neutralität. Sie ist nicht auf eine bestimmte Schule oder Methodik festgelegt, sondern versucht, durch genaue Beobachtung und Reflexion unvoreingenommene Einsichten in die Realität der Wirtschaft zu gewinnen.

Wie beeinflusst unser Menschenbild die Art, wie wir Wirtschaftssysteme denken und gestalten?

Unser Menschenbild hat direkte Auswirkung auf unser Verständnis der Wirtschaft. Es macht einen Unterschied aus, ob wir den Menschen als Homo oeconomicus, als rationalen Nutzenmaximierer betrachten oder als Akteur, der zu Empathie und Solidarität fähig ist. Adam Smith hat gezeigt, dass beides der Fall sein kann: Die Verfolgung des Eigeninteresses führt dann zur Steigerung des Gemeinwohls, wenn sie durch die Einfühlung in andere angeleitet wird. Die Verhaltensökonomik hat in den letzten Jahrzehnten in empirischen Studien nachgewiesen, dass Menschen aufgrund ihrer sozialen Natur durch Kooperationsbereitschaft und Fairness gekennzeichnet sind. So schlecht, wie die Ökonomiekritik behauptet, steht es also nicht um den „wirtschaftenden Menschen“ (Eucken), der durch die Ausbildung von Tugenden wie Verlässlichkeit, Respekt und Mut zu einer humanen Wirtschaftsordnung beitragen kann.

In einer aktuellen Publikation in Ihrer Reihe beschäftigen sich verschiedene Autoren und Autorinnen mit den wirtschaftsphilosophischen Implikationen der Digitalisierung: Welche Trends und ethischen Herausforderungen sind mit einer stärkeren Digitalisierung und der flächendeckenden Nutzung von Künstlicher Intelligenz verbunden?

Die Trends und Herausforderungen reichen von Fragen der Roboterethik, der Diskriminierung durch Algorithmen, Datenschutzfragen und Cyberkriminalität über Echokammern und die Fragmentierung der Öffentlichkeit durch soziale Medien, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Social-Scoring-Systemen und Probleme der digitalen Überwachung bis hin zum Umgang mit KI-generierten Informationen, digitalen Urheberrechten und der Kontrolle automatischer Waffensysteme. Durch die Digitalisierung entstehen neue Formen interaktiver Intelligenz, kommerzieller Plattformen und globaler Netzwerke, die mit wirtschaftsphilosophischen Mitteln untersucht werden müssen.

Gerade erleben wir aufgrund zunehmender geopolitischer Spannungen, die die Weltwirtschaft unter Druck setzen und bestehende Lieferketten und Warenflüsse bedrohen, eine Renaissance der politischen Ökonomie. Wie versuchen Sie mit Ihrer Schriftenreihe dieser Entwicklung Rechnung zu tragen?

Wir wollen in Zukunft die geopolitischen Entwicklungen stärker in den Fokus rücken. Die politische Ökonomie ist nicht erst seit Marx Gegenstand der Wirtschaftsphilosophie. Schon im Merkantilismus und Kameralismus stand die Frage im Vordergrund, wie Staaten ihren Haushalt sanieren und mit Zöllen und Einfuhrverboten zu ihrem Vorteil Handel betreiben können. Heute ist der Neomerkantilismus durch den Vormarsch autokratischer Regierungen weltweit dabei, den Neoliberalismus abzulösen. Beides sind Doktrinen, die langfristig nicht zu ökonomischem Wachstum und nationalem Wohlstand beitragen, sondern zu neuen Krisen führen werden. Die Zukunft hängt von der Widerstandskraft liberaler Demokratien gegen die autokratische Aufkündigung etablierter Spielregeln ab, wie sich dies durch die Trump-Regierung beobachten lässt. Wollen Firmen und Konzerne politisch motivierte Eingriffe in die wirtschaftliche Freiheit vermeiden, müssen sie in Zukunft selbst politisch aktiv werden. Dieser Entwicklung wollen wir durch Publikationen zur politischen Rolle von Unternehmen Rechnung tragen.

Prof. Dr. Ludger Heidbrink ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Moralphilosophie, Politischen Philosophie und Wirtschaftsphilosophie. Zudem ist er Herausgeber der Reihe Studies in Philosophy of Economics.

Er ist Direktor des Kiel Center for Philosophy, Politics and Economics (KCPPE), Co-Direktor des Gustav Radbruch Netzwerks für Ethik und Philosophie der Umwelt der CAU, Mitglied im Wissenschaftlichen Koordinierungsgremium des BMJV, Mitglied der AG Wirtschaftsphilosophie und Ethik der DGPhil, Mitglied des Ausschusses Wirtschaftswissenschaften und Ethik des Vereins für Socialpolitik sowie Vorstandsmitglied der Wertekommission e.V. für wertebewusste Führung.

Mehr davon?
Unser Newsletter NOESIS versorgt Sie regelmäßig mit neuen Beiträgen, exklusiven Inhalten aus unserem Verlagsprogramm und aktuellen Hinweisen aus der philosophischen Community.
Für alle, die sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben.