Das AGB-Recht – ein blinder Fleck für die Compliance?

Das AGB-Recht – ein blinder Fleck für die Compliance?

Von Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen

Wichtigste Aufgabe der Abteilung „Compliance“ ist es bekanntlich, Vorsorge zu treffen, vor allem zu gewährleisten, dass rechtliche Normen, Vorschriften und Richtlinien peinlich genau eingehalten werden. Alles soll im Unternehmen, so heißt die eiserne Regel, nach Recht und Gesetz geschehen. Die „Product Compliance“ macht davon keine Ausnahme. Die ganz entscheidenden „Products“, sozusagen, die dem Rechtsverkehr angebotene „Visitenkarte“ eines jeden Unternehmens, sind ja die einzelnen Vertragswerke. Alles an Klauselvorschlägen, gerade auch die, welche kautelarjuristisch mit Mühen vorbereitet wurden, um in die Datenbanken von Einkauf, Vertrieb und Rechtsabteilung Eingang zu finden, sind in ihrer Vertragsgestaltungsfreiheit überaus eng beschränkt. Es sind die strengen, weil zwingenden Bestimmungen des AGB-Rechts, die hier eingreifen. Erbarmungslos. Vertragsfreiheit – Fehlanzeige. Im Gegenteil: Brutal gesagt und von zahllosen Mandaten erfahrungsgesättigt gilt der Satz: Die Rechtswidrigkeit der Vertragsgestaltung herrscht in aller Regel bei den „Products“. Kein Ruhmesblatt für die eigentlich geschuldete Rechtstreue.

Umfassender Anwendungsbereich

Daher ruft der Kundige an dieser Stelle „Feuer“: Doch kaum einer hört ihm zu; keiner benachrichtigt die Feuerwehr. Die Löschschläuche bleiben im Depot. Denn es herrscht der unausrottbare Irrglaube, als sei die Anwendung der Normen des AGB-Rechts nur auf das „Kleingedruckte“, also auf die Verkaufs- und Einkaufs-AGB begrenzt. Falsch. Und dann gilt auch noch die weitere irrige Aussage: Die Rechtsprechung zur AGB-Kontrolle ist ohnedies unüberschaubar und nicht vorhersehbar. Irrtum. Die wesentlichen Rechtsregeln gelten seit fast fünfzig Jahren. Gelassenheit bei den Betroffenen breitet sich aus. Soll doch der Vertragspartner sich in den Verhandlungen wehren. Dann kann man ja weitersehen. Doch um mit dem Grundirrtum gleich aufzuräumen: Alle einseitig vorformulierten Vertragsbedingungen fallen unter den Begriff der AGB (§ 305 Abs. 1 Satz 1 BGB), soweit sie nach der Absicht des Unternehmens – gleichgültig, in welchem sachlichen Zusammenhang – in Zukunft verwendet werden könnten oder sollten. Mehr noch: Immer dann, wenn ein Vertragsentwurf oder sogar ein unterzeichneter Vertrag, so sieht es jedenfalls der BGH, von seinem systematischen Aufbau her betrachtet, den Anschein erweckt, als handle es sich hier um einen „typischen“ Vertrag, sind seine Regeln bis zum Beweis des Gegenteils AGB.

Parallelwertung auf Basis des geschriebenen Rechts

Trifft dies aber zu, dann kommt sehr, sehr unvermittelt die Guillotine des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zum Zug. Ihr Verdikt gilt immer dann, wenn eine einzelne Klausel zum Nachteil des anderen Vertragsteils von den Wertungen des (zugrundeliegenden) Gesetzes nicht nur geringfügig abweicht. Dahinter steht unerbittlich die als zwingendes Recht gestaltete „Leitbildfunktion“ der gesetzlichen Vorschriften. Diese aber begrenzen – und dies seit fast fünfzig Jahren – die einseitige Vertragsgestaltungsfreiheit des AGB-Verwenders. In dieser Perspektive ist der Schutz des Verbrauchers und der des Unternehmers gleich. Vielmehr sind die Normen des parlamentarischen Gesetzgebers als Gerechtigkeitsentscheidungen für den AGB-Verwender verbindlich. Sie sind es, die den Vertragspartner schützen und die einseitige Vertragsfreiheit bei den „Products“ beschränken.

Umfassende Aufgabe der „Compliance“

Dringliche Aufgabe der „Compliance“ muss es deshalb sein, alle AGB, Musterklauseln, Vertragsmuster – kurz: alle Vertragsbedingungen des Unternehmens – unter die Lupe zu nehmen und diese auf ihre AGB-Konkordanz – das heißt: auf ihre Rechtmäßigkeit – zu prüfen. Das geht nicht über Nacht: Das Ausmisten des Augiasstalls ist immer eine Herkulesaufgabe. Doch die Verwendung einer AGB-widrigen Klausel ist und bleibt eine rechtswidrige Handlung und daher auch eine zum Schadensersatz nach §§ 311 Abs. 2, 249 ff. BGB gegenüber dem Vertragspartner verpflichtende Vertragsverletzung. Im Verkehr mit dem Verbraucher ist die Verwendung solcher Klauseln auch als Fall des Rechtsbruchs gemäß § 3a UWG einzuordnen.

Weiter Weg zum ausgehandelten Individualvertrag

Aus dem Würgegriff des zwingenden AGB-Rechts kann sich der Verwender nur auf eine einzige Weise befreien: Er muss die jeweilige – einzelne – Klausel gegenüber seinem Vertragspartner nach den Vorgaben des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB insoweit zur Disposition stellen, als diese vom Leitbild des dispositiven Rechts abweicht und daher rechtswidrig ist. Aufbauend auf einer so bereinigten, aber dann eben auch rechtmäßigen Klausel muss der Vertragspartner in die Lage versetzt werden, seine eigenen Interessen wahrzunehmen und – dies bezeichnet die Judikatur als „Regelfall“ – die betreffende Klausel auch inhaltlich abzuändern. Dieser Weg ist sehr steinig. Nur wenige Unternehmen gehen ihn. Viele bevorzugen leider – oft und unbeirrt – den Weg in die Rechtswidrigkeit.


Der Autor ist Rechtsanwalt in Lohmar und Honorarprofessor an der Uni Bielefeld. Er war 1973/74 Mitglied der AGB-Kommission des „Bundes christdemokratischer Juristen“ und Mitautor dieses Entwurfs, der in das AGB-Gesetz eingeflossen ist. Seither hat er die Rechtsprechung in dem von ihm mitherausgegebenen Handbuch „Vertragsrecht und AGB-Kauselkontrolle“ (Graf von Westphalen/Thüsing/Pamp), 49. EL, München 2022 und in zahllosen Aufsätzen kritisch begleitet und in der Anwaltspraxis eine jahrzehntelange Erfahrung gesammelt. Im Formularbuch Product Compliance, das im kommenden Jahr im Nomos Verlag erscheinen wird, ist er für das Kapitel „Das Produkt in der Vertragsgestaltung“ verantwortlich.