Sicherheitspolitische Entwicklungen im Bereich der Konfliktforschung
Vorstellung der neuen Reihe ISPK
Erster Band: Der russische Angriffskrieg
Der Angriffskrieg als Zeitenwende
12.12.2022
Vorstellung der neuen Reihe ISPK
Erster Band: Der russische Angriffskrieg
Der Angriffskrieg als Zeitenwende
NOMOS-Interview zur neuen Reihe „ISPK-Studien zur Konfliktforschung“ und dem Sammelband „Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine – Zeitenwende für die deutsche Sicherheitspolitik“
Wie überraschend kam für Sie der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine?
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine war zwar für einen Großteil der Gesellschaft eine Überraschung, nicht aber für die meisten Militärexperten. Die amerikanischen und britischen Geheimdienste schätzten den Zeitpunkt und das Ausmaß des Konflikts ziemlich genau ein, es gab aber auch mehr als genug eindeutige Hinweise auf eine noch frühere Eskalation, beginnend spätestens mit der Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und dem Georgien-Krieg 2008.
Man konnte beobachten, wie revanchistisches und imperialistisches Gedankengut in den letzten zehn Jahren in der russischen Propaganda und in Putins Reden immer präsenter wurde, wie der russische Präsident gegen die Opposition und die freien Medien vorging und in den Ausbau des Polizeistaats investierte, wobei er die volle Kontrolle über alle Bereiche des Staatsapparates erlangte und sein Regime noch autoritärer machte. In den letzten fünf Jahren hat Putin mehr finanzielle Mittel in die Entwicklung und Produktion neuer Waffen gesteckt und gleichzeitig eine hybride Kriegsführung im Ausland betrieben (z. B. Desinformationskampagnen oder die finanzielle Unterstützung rechts- und linksextremer Parteien). Man kann die russische Militärpräsenz in Syrien auch als eine Gelegenheit zur Durchführung von Echtzeit-Militärtrainings betrachten. So fand in diesen Jahren vor unseren Augen eine umfassende Vorbereitung der russischen Militäraggression statt, und der eingefrorene Donbas-Konflikt war der erwartete Ausgangspunkt dafür. Putin hat nie einen Hehl aus seinem Ziel gemacht, ein russisches Imperium (wieder)aufbauen zu wollen, und die Ukraine (aber auch die baltischen Staaten, Moldawien und Polen) waren immer ein wesentlicher Bestandteil davon. Die berüchtigten „Surkow-Leaks“ im Jahr 2016 wurden im Westen weitgehend ignoriert, aber sie enthüllten Putins Pläne für eine Invasion der Ukraine (Operation „Noworossija“), so dass ein umfassender Krieg nur eine Frage der Zeit war. In den Jahren 2019 bis 2020 war die russische Informationskampagne in der Ukraine auf ihrem Höhepunkt und zielte auf eine Zersetzung der Gesellschaft. Gleichzeitig stand die Kampagne für North Stream II kurz davor, Europa (und insbesondere Deutschland) vom russischen Gas in höchstem Maße abhängig zu machen. Der Zeitpunkt konnte für Putin, mit der ausgeprägten Beschäftigung vieler westlichen Staaten mit sich selbst, kaum besser sein. So wurden im Mai 2021 die Militärübungen mit Belarus gestartet – etwas, das im Ausland als einfaches Säbelrasseln, aber nicht als tatsächliche Drohung verstanden wurde. Wenn wir auf diese Zeit zurückblicken, ist es traurig zu verstehen, dass die Warnungen vieler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Politik und Gesellschaft ignoriert wurden. Unser – leider verstorbener – Kollege und renommierter Russlandexperte, Dr. Hannes Adomeit, wies bereits 2021 mehrfach darauf hin, dass der Großangriff auf die Ukraine innerhalb der nächsten Monate erfolgen wird.
Würden Sie von einem neuen Kalten Krieg sprechen?
Die Geschichte ist zyklisch, aber sie wiederholt sich nicht genau. Der Kalte Krieg im 20. Jahrhundert fand in einer bipolaren Welt statt, als zwei eindeutige Supermächte, die Besitzer der Atombomben, polare Ideologien und strategische Ziele verfolgten, um ihren Einfluss auszuweiten, sei es durch Soft Power oder Hard Power. Diesmal jedoch spielen sich die Ereignisse in einer multipolaren Ordnung ab, in der mehrere Staaten unterschiedliche strategische Ziele verfolgen, die Wirtschaft globalisiert ist und die „Blöcke“ ziemlich fließend sind. Der Westen versucht aufgrund des potenziellen wirtschaftlichen Schadens jede direkte Konfrontation zu vermeiden (wir sehen dies etwa an der Weigerung von Waffenlieferungen an die Ukraine im Zeitraum 2014–2021). Aus russischer Sicht, wo der Revanchismus für den „verlorenen Kalten Krieg“ in den letzten 30 Jahren präsent war, hat der Streit „Wir versus den Westen“ (womit meist die NATO als „der Westen“ gemeint ist) nie aufgehört. Man kann sagen, dass Stalins Philosophie des Kalten Krieges in der Ideologie Putins wiederauferstanden ist: die Vorherrschaft zuerst in der ehemaligen Hegemonie (in den postsowjetischen Republiken), dann in Europa und schließlich in der Welt (bzw. die Schwächung der USA) zu erlangen. Dies könnte entweder mit Soft Power oder mit Hard Power bzw. mit hybrider oder mit konventioneller Kriegsführung geschehen. Die Diskrepanzen werden von Tag zu Tag größer: Die westlichen Staaten respektieren den souveränen Willen der Ukraine, während Putin in seiner September-Rede die westliche Freiheit und Demokratie als solches kritisiert. Wir befinden uns also tatsächlich in einer neuen Form eines Kalten Krieges, der jedoch bspw. mit seinen „hybriden“ Besonderheiten sowie neuen Akteuren zahlreiche Unterschiede zum vorherigen aufweist. Dieser Krieg bleibt für die EU/NATO jedoch nur „kalt“, solange seine „heiße Phase“ die ukrainischen Grenzen nicht verlässt.
Wie schätzen Sie die sicherheitspolitische Lage derzeit ein? Sehen Sie die Möglichkeit einer weiteren Eskalation des Konflikts im Hinblick auf eine direkte Konfrontation der USA und Russlands?
Derzeit erleben wir eine potente Antwort der ukrainischen Armee auf den russischen Angriff – eine Entwicklung die auf die großen Unterschiede in der Motivation der Truppen, der logistischen Kapazitäten sowie der Waffeneffizienz zwischen beiden Konfliktparteien zurückgeht. Natürlich ist die Herbstoffensive der Ukraine im Osten auch dem effektiven Einsatz der nun endlich erfolgten westlichen Waffenlieferungen zu verdanken. Diese Erfolge drängen nicht nur die russischen Truppen in der Ukraine zurück, sondern setzen auch das Regime Putins unter erheblichen Druck. Deshalb werden wir im Moment immer häufiger Zeuge bösartiger Angriffe russischer Raketen und Artillerie auf die ukrainische zivile Infrastruktur, auf Wohnhäuser, Schulen und Kindergärten. Diese menschenverachtenden Methoden zielen darauf ab, die Ukrainer zu demotivieren und zu einem Verhandlungsergebnis zu drängen, solange Russland noch aus einer Position der relativen Macht heraus sprechen kann. Eine solche Erpressung wird aber wohl angesichts der hohen Motivation zur Landesverteidigung der Ukrainer nicht funktionieren, stattdessen werden die erbitterten Bombardierungen der Zivilbevölkerung die westliche Militärhilfe weiter befördern. Im Laufe des nächsten Monats werden wir möglicherweise noch weitere von der Ukraine befreite Städte erleben, aber der Winter wird die Frontlinie vorübergehend erstarren lassen. Eine Ausweitung des Krieges zu einer größeren Konfrontation – vor allem zwischen den USA und Russland – ist derzeit eher unwahrscheinlich. Keine der Seiten hätte gegenwärtig ein Interesse daran. Lediglich ein Tabubruch, wie der Einsatz einer taktischen Atomwaffe durch Russland, würde eine westliche Intervention unabdingbar machen. Putin droht seit Februar mit nuklearen Waffen, wird diesen Schritt aber kaum gehen, da er kaum etwas damit erreichen könnte. Die Strategie des Pentagons gegenüber Russland besteht darin, „seine militärischen Kapazitäten auf ukrainischem Gebiet zu schwächen“, um so zu verhindern, dass der Krieg die Grenzen überschreitet.
Was sind die Ursachen des Konflikts?
In unserem Sammelband thematisieren wir zusammen mit den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die äußeren und inneren Determinanten Russlands, sowie zwei hauptsächliche Sichtweisen der Entstehung der russischen Aggression gegen die Ukraine: die geopolitische und die regionale. Die Vertreter der ersten Idee sind meist die Anhänger der realistischen Theorie der internationalen Beziehungen. Neben anderen Argumenten betrachten sie die NATO-Osterweiterung als einen der Hauptgründe für die zunehmend aggressivere Politik Putins. Sie erklären auch die russisch-imperialistische Betrachtung der Ukraine als Moskaus „historische Hegemonie“ und Russlands „natürliches Recht“, sie zu kontrollieren. Die zweite Perspektive betrachtet den ukrainisch-russischen Krieg als regionale Konfrontation und stützt unter anderem die Vorstellung, dass der russische Angriff auf die Ukraine rein regionaler Expansionismus ist, der durch die interne russische Idee der Staatsvergrößerung verursacht wird und auch ohne äußere Bedrohung stattfinden würde. Nach acht Monaten der russischen Aggression in vollem Umfang lässt die Analyse der angewandten Methoden (Angriffe auf die zivile Infrastruktur, Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegswaffe, Kastration männlicher Kriegsgefangener, Massenerschießungen, Filtrationslager und Deportationen, massenhafte „Russifizierung“ in den besetzten Gebieten und Bestrafung für das Sprechen der ukrainischen Sprache) einen aufmerksamen Beobachter zu folgenden Schlussfolgerungen kommen: Erstens, es handelt sich eindeutig um eine Operation zur Vernichtung der Ukraine als Nation. Dieser Gedanke wurde in der westlichen Analyse bis zu dem berüchtigten Artikel in der russischen Propagandazeitung „RIA Novosti“ vermieden, der ihn nicht nur bestätigte, sondern auch die Eliminierung der Ukrainer als eines der Hauptziele der Operationen propagierte. Schließlich wurden die gleichen Ideen auch von Putin selbst geäußert. Zweitens sind die russischen Methoden im Ukraine-Krieg 2022 eigentlich nicht neu. Sie wurden von der russischen Armee bereits in den Kaukasuskriegen, in den Tschetschenienkriegen in den 1990er Jahren und in Georgien im Jahr 2008 angewandt. All diese militärischen Kampagnen hatten einen expansionistischen Charakter. Wie wir sehen, wurde der Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO vom Kreml nicht als „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ betrachtet, obwohl der Block den russischen Grenzen gefährlich nahekam. Die Hauptursache des Konflikts liegt also in den russischen Expansionsabsichten, in Putins Idee, das Imperium wieder aufzubauen, und in der Tatsache, dass eine demokratische Ukraine, die sich erheblich entwickeln dürfte, sobald sie ihre Zusammenarbeit mit dem Westen verstärken kann, eine direkte Bedrohung für Putins korruptes kleptokratisches Regime darstellen würde.
Die NYT veröffentliche vor Kurzem Gesprächsprotokolle von russischen Soldaten an der ukrainischen Front, die auf signifikante Probleme wie eine wegbrechende Kampfmotivation, schlechte Ausrüstung, Falschinformationen an die Soldaten und eine Verbreitung von falschen Informationen in Bezug auf den Verlauf des Krieges in Russland schließen lassen. Muss Putin mit einem Vertrauensentzug seines Volkes und seines Militärs rechnen?
Für den Hauptteil der russischen Armee – nicht aber für speziell ausgebildete, gut ausgerüstete und motivierte Einheiten von Fallschirmjägern oder die private paramilitärische Einheit „Rossgvardia“ – gilt: Die Motivation der russischen Soldaten auf dem Schlachtfeld begann bereits seit dem dritten Tag des Krieges in großem Umfang zu sinken. Angesichts der vagen, in großen Teilen wahnhaften Ziele der von Putin angekündigten Operation („Entmilitarisierung“, „Entnazifizierung“ usw.) würde selbst eine Person, die ihr ganzes Leben lang unter dem Einfluss der Propaganda steht, unweigerlich eine kognitive Dissonanz erleben. Zu den ersten Aufzeichnungen der russischen Soldaten gehört ihre Verwirrung darüber, dass sie die russische Sprache von der ukrainischen Seite hörten – „Wird die russische Sprache dort nicht unterdrückt?“. Solche Lügen der russischen Führung gegenüber ihren Soldaten, wie etwa, dass sie von den Ukrainern mit Blumen empfangen oder dass die Wehrpflichtigen niemals auf das Schlachtfeld geschickt würden, lässt die Moral einer jeden Armee sinken, wenn diese sich als gänzlich falsch erweisen.
Hauptmotiv für junge Männer zum Eintritt in die russische Armee ist aber oftmals nicht eine Ideologie sondern die wirtschaftliche Not. Bis zur Mobilisierungskampagne im September 2022 stammten 90 Prozent der russischen Armee aus dem fernen Osten, der Mitte und dem Südosten Russlands, also aus sehr armen Regionen mit nationalen Minderheiten, die dort kein stabiles Einkommen haben. Selbst die Möglichkeit, z.B. einen Kredit für ihre Verwandten mit den Post Mortem-Zahlungen zu decken, ist für sie ein Grund, der Armee beizutreten. Daher war ihre Motivation in den letzten Monaten zwar gering, aber das Einkommen war Grund genug, ein Risiko einzugehen und auf dem Schlachtfeld zumindest ein Minimum an Leistung zu erbringen. Bald werden wir jedoch Zeuge einer nochmals veränderten Tendenz: Die Mobilisierung im September wird nun die Russen der Mittelschicht aus den vergleichsweise wohlhabenden Regionen Sankt Petersburg und Moskau treffen. Sie werden gezwungen der Armee beizutreten, und eine relativ geringe finanzielle Besoldung ist nicht ausreichend motivierend, vor allem wenn man weiß, dass man Medikamente, Schuhe, eine Splitterschutzweste oder den Helm vom eigenen Geld kaufen muss. Es konnte bereits beobachtet werden, dass sich die neu mobilisierten Soldaten sofort der ukrainischen Armee ergeben haben – für diese Menschen haben die ukrainischen Streitkräfte eigens eine telefonische „Hotline“ eingerichtet. Putin hat versucht, diese Massenmobilisierung so lange wie möglich zu vermeiden – und das aus gutem Grund. Die russischen Militärvorräte können eine solche Menge frischer Soldaten schwerlich mit Waffen, Ausrüstung, Kleidung oder gar Lebensmitteln versorgen. Voraussichtlich wird eine nochmals höhere Zahl an Soldaten desertieren, sich ergeben oder in kurzer Zeit wegen mangelnder Ausbildung, Bewaffnung und Motivation fallen. Es offenbart sich hier eine riesige Schwachstelle der russischen Streitkräfte, die nicht nur die Erfolge der militärischen Operation, sondern auch Putins Überleben bedroht. Diesen Fehler werden ihm seine Kontrahenten in Russland nicht verzeihen, vor allem nicht die Kriegs-„Falken“ („the Hawks“), die sich nach einem schnellen Sieg à la „Krim-Frühling“ sehnen. Im Oktober 2022 wurden wir zum ersten Mal während der gesamten Regierungszeit Putins Zeuge, wie er von Propagandisten und Mitgliedern seines Kabinetts offen kritisiert wurde. Diese Tendenz wird sich wahrscheinlich fortsetzen, es sei denn, ein großer unerwarteter Erfolg auf dem Schlachtfeld erkauft ihre Loyalität für eine gewisse Zeit.
Wie viel können wir über die Geschehnisse in Russland überhaupt wissen?
Das ist eine gute Frage, vor allem, wenn man bedenkt, dass Russland ein autoritärer Polizeistaat ist, in dem die Opposition und die freien Medien vertrieben oder ausgeschaltet wurden. Wir befinden uns heute jedoch nicht mehr hinter dem „Eisernen Vorhang“, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, sondern leben im Zeitalter der Informationstechnologien. Dank der tief verwurzelten Korruption in Russland ist es der Regierung nicht gelungen, ein autonomes Internet zu entwickeln, wie es vor einigen Jahren in China der Fall war. Trotz der massiven Propaganda und der staatlichen Zensur von Informationen, die die Grenzen verlassen, haben wir immer noch mehr als genug Informationskanäle (vor allem in den sozialen Medien), die uns einen Überblick über das tägliche Leben in Russland, die Entwicklung der laufenden Mobilisierung, die Stimmung in der Gesellschaft oder die Auswirkungen von Sanktionen geben. Oft geschieht dies sogar unbewusst für die Quelle – in einigen propagandistischen Telegram-Kanälen sehen wir die Misserfolge bei der Mobilisierung, und einige Soldaten auf TikTok oder Instagram zeigen in ihren Videos die Landschaft des Gebiets, in dem ihr Bataillon disloziert ist. Zudem sollten wir die Putin-feindlichen Russen nicht ausschließen, die ihre Informationen privat mit den oppositionellen Medien im Exil teilen. Auch erhalten die staatlichen Nachrichtendienste natürlich zahlreiche Informationen über Russland durch ihr Netzwerk, wobei dieses für Wissenschaftler grundsätzlich nicht zugänglich ist. Die Kombination aus den Möglichkeiten des Informationszeitalters, modernen Technologien und der Motivation einiger russischer Bürger, ihr Land ohne Putin zu sehen, verschafft sowohl der Ukraine als auch den westlichen Ländern eine ziemlich solide Innenansicht über Russland.
Welche Folgen hat der Krieg (und dessen Auswirkungen) für die Ukraine und für Russland?
Eine solche Prognose ist aus der Perspektive des heutigen Kriegsverlaufs schwer zu treffen. Zu Beginn des Krieges, als die russische Armee überschätzt und die ukrainische Armee und der Widerstand des Volkes unterschätzt wurden, konnte man viele Prognosen für einen lang anhaltenden Konflikt hören, bei dem ein beträchtlicher Teil der Ukraine besetzt sein und sich eine intensive Partisanenbewegung entwickeln würde. Wie wir sehen, hat Russland nicht nur weniger Land erobert als erwartet, sondern die Ukraine schafft es auch, es in einem beeindruckenden Tempo zurück zu erobern. Bevor sich ein wie auch immer geartetes Ende des Krieges nähert, werden einige wichtige Änderungen der Strategien und Konfliktentwicklungen eintreten und einige neue Angriffs- und Verteidigungsmethoden zu beobachten sein. Wir sehen jedoch von Tag zu Tag mehr Chancen für die Ukraine, nicht nur den Status quo vor dem 24. Februar 2022, sondern sogar die Grenzlinie vor 2014 zu erreichen. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Zaluzhnyi, veröffentlichte im September 2022 einen Artikel, in dem die strategischen Pläne zur Räumung der Krim als Priorität für die nationale Sicherheit bezeichnet wurden. Wir sehen, dass die westlichen Verbündeten mit der Ukraine mehr und mehr darin übereinstimmen, dass ein dauerhafter Frieden nur möglich ist, wenn die Krim und das Schwarzmeerbecken entmilitarisiert werden. Wenn die russischen Raketenangriffe auf die zivile Infrastruktur, wie sie im Oktober stattfanden, nicht gestoppt werden, wird der Westen gezwungen sein, die Ukraine nicht nur mit mehr Luftabwehr, sondern auch mit soliden Offensivwaffen auszustatten. Damit werden die ukrainischen Ambitionen, die Grenzlinie von 2014 zu erneuern, tatsächlich ziemlich realistisch. Die jüngsten Beitrittsanträge der Ukraine zur EU und zur NATO bedeuten natürlich nicht, dass sie bald Wirklichkeit werden. Sobald sich der Konflikt jedoch stabilisiert (mit Donbas und der Krim als ukrainische Gebiete oder nicht), wird die Ukraine den Beitritt zu den Organisationen beschleunigen wollen und mehr Chancen haben, dies auch ohne die Erfüllung aller Reformen zu tun. Die Ukraine kann auch auf die westliche Hilfe beim Wiederaufbau der Infrastruktur zählen – mehrere Länder und Privatpersonen haben bereits Stiftungen für die Nachkriegsentwicklung der Ukraine gegründet. Schließlich arbeitet die Ukraine bereits an der Entwicklung ihrer nationalen Sicherheit – eine Mischung aus dem finnischen und dem israelischen Modell. Trotz der bedauerlicherweise hohen Zahl der zivilen und militärischen Opfer in der Ukraine zeichnet sich derzeit ein recht optimistisches Entwicklungsszenario für die Ukraine ab.
Das kann man von Russland kaum behaupten. Putins persönlicher „kleiner siegreicher Krieg“ hat den Staat bereits viel gekostet – und wird ihn noch mehr kosten. Wenn es überhaupt zu (in einem potenziellen Friedensvertrag abgeschlossen) Gebietsgewinnen kommt, werden diese im Vergleich zu den finanziellen und personellen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, minimal sein. Es wird für Russland kaum möglich sein, sein Ansehen im Ausland rasch wiederherzustellen. Das Spiel mit der fossilen Energie als Hybridwaffe gegen den Westen hat Russland zu einem No-Go-Partner in diesem Bereich gemacht, und kaum ein Land in Europa wird zu dieser schädlichen Energiepartnerschaft zurückkehren. Die mittel- und langfristigen Sanktionen werden die russische Wirtschaft nachhaltig schädigen, so widerstandsfähig sie zunächst auch aussehen mag. Eine pessimistische Wirtschaftsprognose für Russland ist daher sehr wahrscheinlich, unabhängig davon, ob wir Russland mit oder ohne Putin als Machthaber sehen werden. Auch bei der Reaktion auf eine Kriegsniederlage sind verschiedene Kombinationen denkbar – man kann über den Wechsel Putins zu einem radikaleren Führer spekulieren (die größte Angst der Europäer) oder über einen tatsächlichen Bürgerkrieg, der mit dem Zusammenbruch der Föderation enden wird (eine Prognose, die in den osteuropäischen Staaten zu hören ist). Wichtig ist, dass die russische Opposition im Vergleich zu Belarus, wo Tsikhanouskaya eine Exilregierung initiiert hat, derzeit eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Putins jahrelanger Kampf gegen Oppositionelle hat große Auswirkungen nach sich gezogen, so dass selbst nach einem – freiwilligen oder erzwungenen – Abtreten Putins keine freiheitlichen Alternativkräfte unmittelbar bereit stehen.