NOESIS
Reflexe – Aristoteles und die Künstliche Intelligenz

13.10.2025

NOESIS
Reflexe – Aristoteles und die Künstliche Intelligenz

Zu sehen ist ein Banner vom Newsletter Noesis mit dem Beiträger Jörg Phil Friedrich

Von Jörg Phil Friedrich

KI-Modelle werden bei Prognosen immer besser, sie werden in der Genauigkeit und Zuverlässigkeit bald herkömmliche Prognosemodelle einholen und dabei auch noch schneller, womöglich auch effizienter im Ressourcen- und Energieverbrauch sein. Das mag für die meisten Menschen, die sich in den letzten drei Jahren an die rasanten Fortschritte und erstaunlichen Fähigkeiten von KI-Systemen gewöhnt haben, kaum noch überraschend klingen, und es ist für viele vermutlich nicht einmal erwähnenswert. Genau besehen ist es aber vielleicht der Vorbote einer völlig neuen Bewertung dessen, was wir als naturwissenschaftlich fundierten Umgang mit der Welt ansehen. Ein Zeitalter geht zu Ende, das vor 2500 Jahren in Griechenland seinen Anfang nahm.

Um das zu verstehen, muss man sich klarmachen, wie herkömmliche Modelle entwickelt werden. Nehmen wir als Beispiel die Klasse von Modellen, an denen sich der Wandel besonders eindrucksvoll zeigt: die Systeme zur Wetterprognose. Ihrer Entwicklung liegt zunächst ein wissenschaftliches Verständnis der physikalischen Prozesse in der Atmosphäre zu Grunde. Das beginnt mit dem Verständnis der Strömung von Flüssigkeiten und Gasen, für die Isaak Newton im 17. Jahrhundert das erste mathematische Modell gefunden hat, welches dann bis ins 20. Jahrhundert weiterentwickelt wurde. Diese Entwicklung ist ein Wechselspiel von wissenschaftlichem Verstehen, mathematischem Modellieren des Verstandenen in Gleichungssystemen und dem Abgleich der Lösungen dieser Gleichungen mit Beobachtungen in Experimenten und in der Natur. Zu den Strömungsgleichungen kamen Strahlungsgleichungen für den Energiehaushalt und Diffusionsgleichungen, die die Ausbreitung etwa von Wasserdampf in der Atmosphäre beschreiben. Jede neue mathematische Komponente vertiefte das Verständnis der Prozesse.

Ab dem 20. Jahrhundert begann die Mathematik zudem, numerische Verfahren zu entwickeln, um diese Gleichungen tatsächlich auch für reale Verhältnisse lösen zu können, also nicht nur für theoretische einfache Grenzfälle wie Strömungen über unendlich große glatte Flächen, sondern für die Atmosphäre, wie sie ist und wie sie über Meere, Gebirge, Wälder usw. dahinströmt. Auch hier gilt: Jeder Fortschritt in der mathematischen Modellierung, die letztlich Computersimulationen ermöglicht, ist mit einem Fortschritt im Verstehen dessen, was da passiert, verbunden: Was passiert, wenn warme Luft über kaltes Wasser strömt, was passiert, wenn sich in Wolken Wassertropfen bilden usw. All das steckte und steckt noch immer voller Rätsel, plausible Vermutungen werden in mathematische Gleichungen umgewandelt und nachgerechnet, an Beobachtungen und Laborexperimenten geprüft und in die großen Modelle eingebaut.

Es ist nicht so, dass gute Modelle der Wetterprognose ausschließlich aus verstandener Physik bestehen, einiges ist auch enthalten, weil es einen unverstandenen Prozess einfach gut simuliert, aber diese Modelle bilden im Kern das ab, was wissenschaftlich verstanden ist, und ihre Verbesserung ist zugleich eine Verbesserung des wissenschaftlichen Verstehens.

Damit steht die Entwicklung dieser Modelle in der Tradition der Wissenschaft, die mit Aristoteles begann, der zu Beginn der Metaphysik erklärte, warum wir den wissenschaftlich Arbeitenden mehr schätzen als den, der sich nur auf Erfahrung stützt, auch wenn Letzterer, etwa als Arzt, ebenso erfolgreich sein mag, oder sogar erfolgreicher: „Und dies deshalb, weil die einen die Ursache kennen, die anderen nicht. Denn die Erfahrenen kennen nur das Dass, nicht aber das Warum; jene aber kennen das Warum und die Ursache.“ (981a)

Auf dieser Tradition, auf diesem Verständnis von Wissenschaft basiert unser heutiges wissenschaftliches Weltverständnis, die moderne Technik und die Vorstellung davon, wie Fortschritt möglich ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Rolle der bloßen Erfahrung in vielen Bereichen, etwa in der Medizin, im Management und im Ingenieurswesen nicht bis heute unterschätzt wird. Alle universitäre Ausbildung beginnt bis heute darin, dass die Studierenden ein Verständnis von den Ursachen, von den Mechanismen ihres Gegenstands erwerben, im Medizinstudium erwirbt man Kenntnisse in Biologie und Chemie, in den Ingenieurswissenschaften muss man Mechanik und Wärmelehre pauken, in den Betriebswirtschaften wird man nicht bestehen ohne das Verständnis ökonomischer Modelle.

KI-Modelle brauchen all das nicht. Sie „lernen“ aus „Erfahrung“, ihre Modelle enthalten nur das „Dass“ und nicht das „Warum“. Ein KI-Wettermodell enthält keine Strömungsmechanik und keine Strahlungsbilanzen. Wenn „Wissen“ bedeutet, „Verstehen, warum“, dann weiß ein KI-Modell nichts. Es kann seine Berechnungen nicht mit Rückgriff auf die zugrunde liegenden physikalischen Prozesse erklären – auch wenn es natürlich, wenn es mit einem Sprachmodell gekoppelt ist, das auf Lehrbüchern der Physik und wissenschaftlichen Papern trainiert ist, auch das Erklären simulieren könnte.

Was folgt daraus? Man könnte sagen, dass es uns doch herzlich egal sein kann, ob ein Wettermodell auf physikalischem Verständnis der atmosphärischen Prozesse oder auf der Auswertung von gigantischen Datenmengen beruht, wichtig ist allein, dass es eine zutreffende Prognose liefert, und das möglichst schnell und effizient.

Die Konsequenzen werden deutlich, wenn man sich fragt, ob mit einem solchen Modell auch die Prognose des Klimawandels möglich geworden wäre. Selbstverständlich könnte ein KI-Modell auch Trends erkennen und fortrechnen. Ende der 1970er Jahre hätte ein so trainiertes Klimamodell wahrscheinlich eine fortschreitende globale Abkühlung vorhergesagt, heute würde es vielleicht schon eine weitere Erwärmung ermitteln. Sicher ist das nicht, denn das Modell wüsste eben nicht, worauf es ankäme. In den 1970ern haben wir alle die zunehmende Verschmutzung der Atmosphäre bemerkt, und entsprechend unseres physikalischen Wissens über den Effekt einer Verdunkelung der Erdatmosphäre auf die Strahlungsbilanz, die Wolkenbildung und anderes konnte man Abschätzungen berechnen, wohin sich das Klima entwickeln würde. Ebenso ist es mit dem Effekt des CO2 in der Atmosphäre, über den sich Forscher bekanntlich seit mehr als anderthalb Jahrhunderten Gedanken machten, lange, bevor die Erfahrung, auf der ein KI-Modell aufbauen kann, diesen Effekt bestätigen und berücksichtigen kann.

Wer heute ein KI-Modell für Klimaprognosen bauen wollte, würde gut daran tun, das Modell nicht nur an Wetterdaten der letzten Jahrzehnte, sondern eben auch an CO2- und Methanmessreihen und an den vielen weiteren Messdaten, die in irgendeiner Weise auf das klimatische System Einfluss haben, zu trainieren. Welche das sind, weiß man aber nicht aus Erfahrung, sondern eben aus dem naturwissenschaftlichen Verständnis des Systems. Ohne dieses wären wir auch nicht in der Lage, aus den Modellergebnissen praktische Handlungsanweisungen abzuleiten. Wir würden, vielleicht, sehen, dass sich das Klima verändert, wüssten aber nicht, woran es liegt, geschweige denn, was wir zu tun oder zu lassen hätten, um den Klimawandel erträglich zu halten.

All das ist nur möglich, weil wir ein physikalisches Verständnis über das Warum haben, das letztlich in Modelle mündet, die wir verstehen und die wir verändern können, um Effekte unseres Handelns vorherzusehen. Für die tägliche Wetterprognose können KI-Modelle schon bald besser und schneller sein als physikalisch-numerische Rechenmodelle. Aus ihnen können wir ableiten, was wir anziehen sollen oder ob wir den Regenschirm brauchen, also für unser Handeln Entscheidungen treffen, die das System selbst nicht verändern. Wenn unser Handeln aber eingreifen und Effekte erzielen soll, dann brauchen wir weiterhin ein Verständnis vom Warum, dafür brauchen wir nicht nur gigantische Datenmengen, von denen wir nicht wissen, wie sie zusammenhängen, sondern ein Modell von den Prozessen, die da ablaufen und die wir verstehen.

Jörg Phil Friedrich studierte zuerst Physik und Meteorologie und später Philosophie. Er ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Heute arbeitet er zu Fragen der Religionsphilosophie, der Wissenschaftsphilosophie und der politischen Philosophie. Beim Verlag Karl Alber erschienen „Der plausible Gott“ und „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“

 

Kolumne Reflexe
In seiner Kolumne Reflexe gibt Jörg Phil Friedrich regelmäßig Anregungen zur philosophischen Reflexion, die auf alltäglichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen.

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