NOESIS
Reflexe – Staatsstreich in den USA?

21.11.2025

NOESIS
Reflexe – Staatsstreich in den USA?

Zu sehen ist ein Banner vom Newsletter Noesis mit dem Beiträger Jörg Phil Friedrich

Von Jörg Phil Friedrich

Philosophie und Literatur haben gemeinsam, dass sie, auch wenn sie sich darin nicht erschöpfen, anhand fiktionaler Konstellationen grundsätzliche Fragen des menschlichen Zusammenlebens, der Möglichkeiten menschlicher Gesellschaften und der Herausforderungen der Gesellschaft behandeln. Während ein literarisches Werk die Konstellation konkret und detailliert darstellt und erzählt, reflektiert ein philosophisches Essay über die Bedingungen, Möglichkeiten und Konsequenzen der Konstellation und versucht so, allgemeine Einsichten über Mensch, Gemeinschaft und Gesellschaft abzuleiten – was die Literatur zumeist nicht explizit tut, sondern, wenigstens zum Schein, dem Publikum überlässt. In beiden Fällen ist das Publikum eingeladen und aufgefordert, die gewonnenen Einsichten wieder fragwürdig zu machen und zu diskutieren.

Man könnte also die Möglichkeit eines Militärputsches in den USA als eine Novelle erzählen, die in einer Situation wie der gegenwärtigen beginnt und zeigt, wie sich die Dinge entwickeln könnten, wer mit wem vertraulich spricht, wer etwas verrät, wer zur Tat schreitet, wer unterstützt und was schließlich dabei herauskommen könnte. Eine Leserin würde sich dann fragen, ob sie die Geschichte als glaubwürdig empfindet und vielleicht ins Nachdenken über Voraussetzungen und Chancen einer solchen Entwicklung geraten, zudem würde sie sich fragen, wie sie die Sache moralisch bewertet, was vielleicht davon abhinge, ob sie die dargestellten Protagonisten sympathisch, ehrlich und selbstlos findet.

In der Philosophie hält man sich mit so konkreten Details nicht auf, sondern spekuliert über Bedingungen und Möglichkeiten und hofft auf diese Weise auf allgemeine Einsichten.

 

Militärputsch und Demokratie

Da wäre zunächst die Frage, ob in einer alten, über Jahrhunderte gewachsenen, demokratisch-republikanisch verfassten Gesellschaft ein Staatsstreich durch das Militär überhaupt denkbar ist. Es scheint auf den ersten Blick womöglich absurd, allenfalls, man denke an den Putsch 1973 in Chile, stellt man sich solche Ereignisse als Konterrevolution reaktionärer Kräfte gegen eine junge, noch instabile Demokratie vor. Wenn man aber an die Möglichkeit eines Putsches in den heutigen USA denkt, geht es um einen Staatsstreich einer Armee, die vor vielen Jahrzehnten von der Republik und für den Dienst an dieser Republik aufgebaut wurde und die seitdem im Auftrag, auf Befehl der Regierung dieser Republik Kriege angefangen, geführt, gewonnen oder verloren oder auch verhindert hat, und dies immer loyal und regierungstreu.

Dennoch kann man die Frage stellen: Warum eigentlich nicht?

Die Menschen sind in ihren Handlungen frei, das bedeutet, sie sind keineswegs durch gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten oder Normen unmittelbar auf bestimmte Handlungen festgelegt, auch nicht darauf, etwas Bestimmtes zu unterlassen. Ein amerikanischer General, der sich in seinem Selbstverständnis durch das Auftreten und die Politik des Präsidenten und seines „Kriegsministers“ verletzt sieht, kann zu einem anderen General Kontakt aufnehmen und diesen, etwa halbrhetorisch, fragen: „Wie lange können wir uns das noch bieten lassen?“ Es ist denkbar, dass sich auf diese Weise ein Kommunikationsnetz von hochrangigen Offizieren in der Army, der Navy und der Air Force bildet, die darüber diskutieren, ob die Entwicklungen in der amerikanischen Politik mit ihrer Ehre als Soldaten, ihrem Verständnis von der Rolle der USA in der Welt, ihrem Verständnis von amerikanischer Gesellschaft usw. vereinbar ist.

 

Ethos: der geheiligte Brauch

Allerdings sind diese Personen in ihren Handlungen auf eine andere Weise nicht frei, nämlich, dass ihr Ethos ihnen bestimmte Handlungen verbietet. Ethos nehme ich hier im ganz ursprünglichen griechischen Sinn als geheiligten, von den Vorfahren, aus der Geschichte legitimierten Brauch, als die Gewohnheiten, die von Alters her legitimiert und normsetzend sind. Das tatsächliche Ethos amerikanischer Generäle kenne ich genauso wenig wie die Antwort auf die Frage, inwiefern diese Leute durch die aktuelle Administration tatsächlich in ihrem Selbstverständnis gestört und verletzt sind, deshalb wage ich auch keine Prognose über das tatsächliche zukünftige Geschehen. Die tatsächliche Freiheit der Handlung befindet sich jedenfalls in der Spannung zwischen Handlungsdruck aus dem Urteil über die gegenwärtige Situation und Handlungshemmung durch das Ethos – oder auch umgekehrt. Zu bedenken ist allerdings, dass schon Aristoteles die legitimierende Verbindlichkeit des Ethos, der sich nur auf die Alten berufen kann, fragwürdig gemacht hat.

Eine andere interessante Frage ist, wie sich ein Herrscher gegen einen Militärputsch schützen kann. Die Streitkräfte eines Landes haben quasi immer und überall die Möglichkeit, eine zivile Regierung zu stürzen. Das Personal verfügt mit den Waffen über die physische Gewalt, zudem untersteht es per Befehlsgewalt wenigen militärischen Führungskräften. Allerdings befindet sich eine militärische Organisation immer in einer paradoxen Situation: diejenigen, die befehlen, sind hinsichtlich der tatsächlichen eigenen Bewaffnung immer denen unterlegen, die die Befehle ausführen sollen. Dass das Befehlen im Allgemeinen erfolgreich ist, liegt zum einen sicherlich wiederum am Ethos, andererseits am gegenseitigen Misstrauen der Befehlsempfänger. Jeder Befehlsverweigerer setzt sich so der Gefahr aus, in Konflikt mit anderen Befehlsempfängern zu geraten, die seiner Verweigerung nicht folgen und die sich somit gegen ihn wenden.

Misstrauen als Machtmittel

Erfolgreiche Putschisten setzen auf dieses Misstrauen unter ihren Untergebenen, auf Unterstützung der Idee, die zum Putsch treibt, und auf das soldatische Ethos des Gehorsams. In einer Republik mit verbreitetem demokratischem Selbstverständnis sind diese drei Voraussetzungen allerdings prekär. Zum persönlichen Ethos der Soldaten als Bürger gehört sehr stark auch die Unterstützung oder wenigstens Akzeptanz der gewählten Regierung, ob das durch das soldatische Ethos unterdrückt werden kann, ist jedenfalls ungewiss. Zugleich dürfte in einer Armee in einer freien Gesellschaft auch das Vertrauen der Soldaten unterer Ränge untereinander vergleichsweise hoch sein, die Bereitschaft, hier gegen einen Kameraden vorzugehen, der den Befehl verweigert, ist vergleichsweise gering. Putschisten müssten sich sehr sicher sein, dass die Idee des Putsches von ihren Untergebenen unterstützt wird, dass ihre Autorität als Befehlshaber stabil ist und dass das soldatische Ethos stark ausgeprägt ist.

Das Misstrauen der Menschen gegeneinander ist normalerweise der beste Schutz eines Machthabers vor einem Putsch. In Diktaturen, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, hat der Machthaber in den Führungsgremien des Staates, sowohl in den Ministerien als auch in der Armee, durch ständigen Austausch und Neubenennungen von Führungsleuten, die als seine Vertrauten gelten, ein Klima geschaffen, in dem niemand dem anderen traut. Das ist in Demokratien, in denen die zentralen politischen Führungsposten durch Wahlen oft neu besetzt werden, nicht möglich. Dort entstehen Vertrauensbeziehungen eher unter den leitenden Beamten, insbesondere in den Streitkräften unter den Admiralen, Generälen und Stabsoffizieren.

Das ist auch die plausible Erklärung, warum Trump die Behörden kurz nach dem Beginn seiner Präsidentschaft mittels der DOGE-Truppe erschüttert und zum Teil zerstört hat. Übrig geblieben ist ein verängstigter, misstrauischer Apparat, der gegen die politische Führung nicht aufbegehren wird, sondern die Tendenz zum Gehorsam zeigt. Gewaltenteilung umfasst bekanntlich auch die Teilung der Handlungsmacht zwischen politischer und administrativer Exekutive: Die gewählten Regierungsmitglieder und ihre politischen Stabsstellen sehen sich dem langfristig etablierten Apparat gegenüber, der den schnellen, kurzfristigen politischen Veränderungsbestrebungen die Beharrlichkeit und Vernunft der bürokratischen Expertise entgegenstellt.

 

Vertrauensnetzwerke in Streitkräften

Eine Zerstörung dieser Gegenkraft der Ministerialbürokratie ist allerdings im Falle der Streitkräfte nicht so einfach, da sich die neuen nichtmilitärischen politischen Führer im militärischen Bereich erstaunlicherweise nicht die Kompetenz zutrauen, Generäle und Admirale einfach durch eigene Leute zu ersetzen – zumal bei Streitkräften wie denen der USA, die überall auf der Welt in Konflikte und Bündnisse eingebunden sind und Präsenz zeigen. Deshalb dürften dort die für einen Staatsstreich nötigen Vertrauensbeziehungen intakt sein, auch wenn Trump durchaus bereits versucht hat, durch überraschenden Austausch von Führungspersonal Vertrauensnetzwerke zu stören.

 

Welches Konzept könnte ein Putsch haben?

Bliebe natürlich die Frage, welche Konzepte und Ziele ein militärischer Staatsstreich in den USA haben könnte. Dies ist jedoch leicht zu beantworten: Die Generäle werden kaum selbst politische Führungsverantwortung auf allen Gebieten der Wirtschafts-, Bildungs-, Gesundheits-, Sozial-, Innen- und Kulturpolitik übernehmen wollen. Sie könnten sich jedoch eine Mannschaft von Trump-kritischen Experten und Technokraten suchen, die für einen gewissen Zeitraum die Regierungsgeschäfte übernehmen, womöglich Verfassungsänderungen einleiten, die die Probleme der Zwei-Parteien-Republik beheben und Neuwahlen auf den Weg bringen.

Die Überlegungen zeigen: Auch in einer alten Demokratie wie den USA ist ein Militärputsch denkbar und hätte Aussicht auf Erfolg, wenn die Generäle vermuten können, dass die Soldaten ihnen gegenüber loyaler sind als gegenüber dem Präsidenten. Die militärische Macht wäre gegeben, der Präsident ist ganz darauf angewiesen, dass das staatsbürgerliche Ethos bei den Soldaten mehr zählt als das militärische – eine Bedingung, die der gegenwärtige Präsident gerade möglicherweise selbst zerstört. Das notwendige Vertrauensnetzwerk innerhalb der Generalität dürfte vorhanden sein. Völlig offen ist selbstverständlich, ob die Generäle überhaupt einen politischen Handlungsbedarf auf ihrer Seite sehen, allerdings hat der Auftritt des zuständigen Ministers vor Hunderten einbestellten Generälen und Admiralen in jedem Fall Unzufriedenheit und Unmut ausgelöst. Man kann gespannt sein, ob das sichtbare Auswirkungen haben wird – allerdings verlässt diese Neugier endgültig den Bereich der zulässigen philosophischen Spekulation.

Jörg Phil Friedrich studierte zuerst Physik und Meteorologie und später Philosophie. Er ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Heute arbeitet er zu Fragen der Religionsphilosophie, der Wissenschaftsphilosophie und der politischen Philosophie. Beim Verlag Karl Alber erschienen „Der plausible Gott“ und „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“

 

Kolumne Reflexe
In seiner Kolumne Reflexe gibt Jörg Phil Friedrich regelmäßig Anregungen zur philosophischen Reflexion, die auf alltäglichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen.

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