Quo vadis, Demokratie?
Wie junge Menschen mit dem TikTok-Algorithmus umgehen: zwischen Wertschätzung und Widerstand  

22.12.2025

Quo vadis, Demokratie?
Wie junge Menschen mit dem TikTok-Algorithmus umgehen: zwischen Wertschätzung und Widerstand

Ein Beitrag von Dr. Leonie Alatassi und Sandra Jütte

TikTok ist für viele junge Menschen Alltag und der Algorithmus prägt, was sie sehen, fühlen und wissen. Im aktuellen Beitrag unseres Newsletters Quo vadis, Demokratie? berichten Dr. Leonie Alatassi und Sandra Jütte über die Erkenntnisse der neuesten #UseTheNews-Studie des Leibniz Instituts für Medienforschung. Die qualitative Studie zeigt, wie Jugendliche und junge Erwachsene die Funktionsweise der Plattform wahrnehmen, wo Wissen fehlt und wie sie zwischen Faszination, Skepsis und bewusster Gegenwehr navigieren.

TikTok ist die am schnellsten wachsende Social-Media-Plattform. Weltweit hat die App rund 1,6 Milliarden aktive Nutzende pro Monat und belegt damit nach Facebook, YouTube, Instagram und WhatsApp den fünften Platz.[1] In Deutschland nutzten im Jahr 2024 rund 23 Millionen Menschen TikTok[2]. Vor allem unter Jüngeren ist die Plattform beliebt: Laut des aktuellen JIM-Reports 2025 ist über die Hälfte der 12- bis 19-jährigen Jugendlichen regelmäßig auf TikTok unterwegs[3]. Neben unterhaltsamen Videos konsumieren junge Menschen dort zunehmend nachrichtliche und politische Inhalte. So geben zehn Prozent der 18-bis 24-Jährigen in Deutschland an, auf TikTok Nachrichten zu suchen, zu lesen, anzuschauen, zu teilen oder darüber zu diskutieren[4]. Bei 12- bis 19-Jährigen sind es knapp ein Drittel die sagen, bei TikTok täglich etwas über das aktuelle Weltgeschehen mitzubekommen[4].

Das Besondere bei TikTok ist die personalisierte For-You-Page (FYP), auf der Nutzenden ein Stream an Videos empfohlen wird, der ihren eigenen Interessen entspricht und zum Durchscrollen einlädt. Dahinter steckt ein algorithmisches Empfehlungssystem (AES), das mit einer großen Datenmenge trainiert wird. Die Empfehlungsentscheidungen basieren auf einer Reihe von Faktoren, darunter Profileinstellungen, Standortdaten und sogenannte Engagement-Metriken, die beispielsweise die Watchtime (Sehdauer eines Videos) oder die Anzahl der Likes und Kommentare erfassen. Junge Menschen haben bei ihrer täglichen Nutzung viele Berührungspunkte mit dem AES von TikTok und sind potenziellen Risiken der algorithmischen Inhalte-Empfehlung ausgesetzt.

Eine neue qualitative #UseTheNews-Studie des Leibniz Instituts für Medienforschung hat untersucht, was Jugendliche und junge Erwachsene über die Funktionsweise des AES von TikTok wissen, inwiefern sie damit interagieren und welche Rolle Emotionen dabei spielen. Dazu wurden sechs Fokusgruppen (n=31) in drei deutschen Großstädten mit jungen Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren sowie Follow-up-Einzelinterviews (n=12) durchgeführt. Die Ergebnisse und Implikationen der Studie werden von der Initiative #UseTheNews aufgegriffen und fließen in die Entwicklung neuer Informations- und Bildungsangebote ein.

Als kurze Zusammenfassung der Kernergebnisse können folgende Aspekte hervorgehoben werden: Es zeigt sich, dass junge Menschen ein deutliches, aber überwiegend intuitives Bewusstsein dafür haben, dass TikTok Inhalte algorithmisch empfiehlt. Dieses Wissen basiert vor allem auf persönlichen Nutzungserfahrungen. Zwar erkennen viele, dass verschiedene Faktoren den Feed beeinflussen, doch insbesondere beim Thema Datensammlung und -verarbeitung bestehen Wissenslücken – ebenso wie bei der Frage, welche personenbezogenen Daten sie preisgeben und welche Folgen das haben könnte. Im Alltag machen die Teilnehmenden selbstverständlich Gebrauch von vielen Funktionen der Plattform. So schauen, liken und favorisieren sie Videos, interagieren mit Profilen oder nutzen die Suchfunktion von TikTok. Diese Handlungen erfolgen meist unbewusst und ohne gezielte Absicht, den eigenen Feed zu steuern. Zwar erleben sie durchaus, dass sie bestimmte Inhalte beeinflussen können, beispielsweise durch die Verwendung des „Nicht-interessiert“-Buttons. Gleichzeitig empfinden viele die technischen Grenzen der Plattform als schwer kontrollierbar. Häufig fehlen sowohl das Wissen als auch die Motivation, Einstellungen zu Datenschutz oder Personalisierung aktiv zu verändern.

Auch Emotionen spielen im Umgang mit TikTok eine wichtige Rolle. Viele erleben den Algorithmus als positiv, weil er interessante und inspirierende Inhalte anzeigt. Gleichzeitig können unpassende Videos, starke Wiederholungen oder ein als „zu gut“ wahrgenommener Algorithmus Gefühle wie Genervtheit, Unbehagen oder Kontrollverlust auslösen. Solche negativen Erfahrungen führen teils zu bewussten Gegenreaktionen, etwa durch gezielte Interaktionen oder sogar längere Nutzungspausen.

Bei der Rolle von TikTok für politische Inhalte zeigt sich ein klarer Unterschied zwischen passivem Konsum („was mir angezeigt wird“) und aktiver Informationssuche („ich informiere mich gezielt“). Die meisten Teilnehmenden verlassen sich eher auf die Inhalte, die ihnen im Feed begegnen, und empfinden es als praktisch, beiläufig informiert zu werden. Nur wenige Teilnehmende haben im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 aktiv nach politischen Themen gesucht oder sind entsprechenden Accounts gefolgt. Insgesamt bleibt die Nutzung politischer oder nachrichtenbezogener Inhalte ambivalent. Viele verbinden TikTok vor allem mit Unterhaltung und sehen die Plattform nicht als seriöse Informationsquelle. Skepsis entsteht vor allem aufgrund des Plattformimages und der Sorge vor Falschinformationen, ein Thema, das bei jungen Zielgruppen besonders präsent ist.

Aus den Ergebnissen können verschiedene Implikationen zur Förderung der Algorithmen- und Digitalkompetenz junger Menschen abgeleitet werden. Social-Media-Plattformen wie TikTok ermöglichen jungen Menschen politische und soziale Teilhabe. Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass TikTok und andere Plattformen jungen Menschen einen Ort für Kommunikation, soziale Interaktion und vor allem für Inspiration bieten. Beispielsweise wird TikTok als Inspirationsquelle zur persönlichen Weiterentwicklung sowie für den Austausch mit Freunden genutzt. Damit erfüllt TikTok wichtige Bedürfnisse und hilft Jugendlichen und jungen Erwachsenen dabei, ihre Entwicklungsaufgaben, insbesondere das Streben nach Autonomie, Identitätsfindung und Gruppenzugehörigkeit, zu bewältigen. Bei der Förderung von Handlungsfähigkeit sollten diese positiven Elemente mitgedacht und als empowernde Elemente eingebracht werden.

Auffallend ist zudem der Befund, dass alle Teilnehmenden, sowohl in den Fokusgruppen als auch in den Einzelinterviews, geringe Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes bei TikTok haben. So fehlt bei den meisten zum einen das Wissen darüber, inwiefern TikTok personenbezogene Daten sammelt, auswertet und für die algorithmische Inhalte-Empfehlung verarbeitet. Zum anderen ist das Problembewusstsein hinsichtlich der Preisgabe und Analyse der eigenen Daten sehr gering ausgeprägt und in der Regel wurde sich mit Themen wie Datensouveränität bislang kaum auseinandergesetzt. Entsprechend scheint es wichtig, diese Aspekte altersübergreifend zu thematisieren und dabei auf eine kreative und affektbasierte Wissensvermittlung zurückzugreifen, um das Agency-Gefühl zu stärken.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass junge Menschen zunehmend ein Bewusstsein für die ambivalente Natur algorithmischer Plattformen entwickeln, es dabei aber eine starke Wahrnehmungsverzerrung gibt. TikTok wird gleichzeitig als individuell bereichernd und sozial riskant wahrgenommen. Beispielsweise werden Hass oder problematische Schönheitsideale als Risiken erkannt, allerdings nur auf andere („jüngere“ Menschen) als negative Beeinflussung projiziert und nicht auf sich selbst. Diese Ambivalenz verdeutlicht, dass digitale Mündigkeit nicht allein durch Wissen, sondern durch kritische Distanz und Urteilsfähigkeit entsteht. Eine zeitgemäße Förderung algorithmischer Kompetenz muss daher sowohl Schutz- als auch Emanzipationsziele verfolgen. Junge Menschen sollten nicht nur lernen, Risiken zu erkennen und zu vermeiden, sondern auch ihre digitale Handlungsfähigkeit innerhalb algorithmischer Strukturen selbstbestimmt zu gestalten. Ein Verständnis darüber, wie algorithmische Kuratierung funktioniert und zu welchen Auswirkungen sie führen kann, ist entscheidend, um an einer digitalen Gesellschaft teilhaben zu können.

 

Die Initiative #UseTheNews geht der Nachrichtennutzung und -kompetenz junger Menschen auf den Grund und entwickelt auf Basis von Studien wie dieser neue Informations- und Bildungsangebote für sie. Im Sinne einer funktionierenden und wehrhaften Demokratie verfolgt #UseTheNews das Ziel, Kindern und Jugendlichen bundesweit ein verlässliches Angebot zum sicheren Umgang mit Informationen und zur faktenbasierten Meinungsbildung zu machen. Initiiert wurde #UseTheNews 2020 von der Deutschen Presse-Agentur dpa und der Hamburger Behörde für Kultur und Medien, begleitet von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und dem Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut. Die Initiative wird von einem Kuratorium aus namhaften Persönlichkeiten aus Medien und Politik unterstützt sowie von einem Netzwerk an Medienhäusern, Bildungsakteur:innen und Stiftungen wie ARD, BDZV, Brost Stiftung, Die Zeit, Deutschlandradio, FUNKE, Journalismus macht Schule, MVFP, ProSiebenSat1, Robert Bosch Stiftung, RTL, SPIEGEL, Vocer.

In Kooperation mit dem Leibniz-Institut für Medienforschung | HBI hat #UseTheNews bereits mehrere Studien zur Nachrichtennutzung und -kompetenz junger Menschen veröffentlicht. Diese Studien sind abrufbar unter www.usethenews.de/wissen.

 

 

[1] Statista, 2025; abgerufen am 26.11.2025 unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181086/umfrage/die-weltweit-groessten-social-networks-nach-anzahl-der-user/

[2] Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, abgerufen am 26.11.2025 unter: https://www.lpb-bw.de/tiktok

[3] Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest – mpfs: JIM-Studie 2025 – Jugend, Information, Medien. Stuttgart.

[4] Behre, Julia; Hölig, Sascha; Stöwing, Ezra; Möller, Judith (2025): Reuters Institute Digital News Report 2025 – Ergebnisse für Deutschland. Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut, Juni 2025 (Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts | Projektergebnisse Nr. 77)

Unsere Beiträgerinnen

Dr. Leonie Alatassi (geb. Wunderlich) ist Postdoc und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit dem informations- und Meinungsbildungsverhalten junger Menschen im digitalen Medienumfeld.

Sandra Jütte ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg im Projekt #UseTheNews. Sie ist ausgebildete Lokaljournalistin und absolvierte ihren Master im Studiengang „Digitale Kommunikation“ an der HAW Hamburg.

 

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