300 Jahre Kant: Sein Vermächtnis für eine lebendige Demokratie im 21. Jahrhundert

22.04.2024

300 Jahre Kant: Sein Vermächtnis für eine lebendige Demokratie im 21. Jahrhundert

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe über Kants demokratisches Vermächtnis und die aktuellen Herausforderungen der Gesellschaft

Anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant und im Rahmen unserer Demokratiekampagne Quo vadis, Demokratie? ist es von grundlegender Bedeutung, die philosophischen Grundlagen unserer modernen Gesellschaft zu erforschen. Als einer der einflussreichsten Denker der Aufklärung hinterlässt Kant ein Erbe, das weit über seine Zeit hinausreicht. Seine Ideen zu Ethik, Metaphysik und Politik prägen nicht nur die Philosophie, sondern haben auch relevante Implikationen für die heutige Demokratie. Im Interview spricht Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe über Kants demokratisches Erbe und seine Bedeutung für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen.

Beginnen wir mit einer allgemeinen Frage: Welche Bedeutung hat die Philosophie für unsere heutige Demokratie und wie kann sie zu deren Erhalt beitragen?

„Als Rechts- und Staatstheorie denkt die Philosophie über das Wesen der politischen Gemeinschaft und deren Notwendigkeit nach und überlegt, welche Staatsform vernünftig, nämlich unter rechtsmoralischen Gesichtspunkten legitim ist. Dabei hebt sie als einzig legitime Staatsform jene Staatlichkeit hervor, in der alle Gewalt von den Betroffenen ausgeht und für sie und von ihnen ausgeübt wird. Sie fordert die Teilung der öffentlichen Gewalten und – als Theorie der politischen Gerechtigkeit und des Prinzips Freiheit – vor allem deren Bindung an die unantastbare Menschenwürde und an die als „angeboren“ qualifizierten, daher unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte.

Die politische Philosophie widerspricht dem Utilitarismus, der erlaubt, Grundrechte der einzelnen zugunsten des Gemeinwohls einzuschränken. Sie votiert für eine Bürger- bzw. Zivilgesellschaft als sinnvolle Zwischeninstanz zwischen der insbesondere durch die Staatsgewalten definierten öffentlichen Sphäre und der „privaten“ Sphäre etwa von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie klärt, unter welchen strengen Bedingungen ein staatsbürgerlicher (ziviler) Ungehorsam legitim sein kann und verwirft beides: Sie lehnt es vehement ab, im Namen von Umwelt- und Klimaschutz das Demokratieprinzip aufzugeben oder auch nur abzuschwächen. Ebenso verwirft sie eine Institution, die in Zeiten mangelnder Rechtsstaatlichkeit erlaubt sein könnte, sich in einer rechtsstaatlichen Demokratie verbietet: das Kirchenasyl.

Die politische Philosophie nennt Bedingungen, unter denen transnationale Einheiten wie die Europäische Union legitim sein kann. Unverzichtbar sind hier die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

Nicht zuletzt argumentiert sie zugunsten einer globalen Rechtsgemeinschaft und ein zu ihrem Zweck immer reicheres und dichteres Völkerrecht. Schließlich setzt sie sich mit so aktuellen, die Demokratien gefährdenden Phänomenen auseinander wie der international organisierten Kriminalität, dem Terrorismus, den enormen Wanderbewegungen und der Aufgabe, auch mit Nichtdemokratien kooperieren zu müssen.“

Und kommen wir nun zu unserem diesjährigen Jubilar: War Kant ein echter Demokrat?

„Kant war eine zutiefst demokratische Persönlichkeit. Das beginnt mit seinem Lebensweg: Dass nicht wie allzu häufig Kinder der gebildeten Mittel- und Oberschicht, sondern ein Handwerkersohn zu einem der größten Denker der Menschheit wird. Noch deutlicher demokratisch ist sein Denken. Er lehnte ebenso alle Privilegien für Fachphilosophen und Gelehrte wie die Diskriminierung der Vernunft jedes Menschen ab. Er verwarf die Ansicht, die Verdienste eines Vorfahren ließen sich vererben, lehnte damit jede Erbaristokratie ab, ferner einen staatlich verordneten Kirchenglauben. Seine Moralphilosophie beruft sich nicht auf Sondereinsichten, sondern das allgemeine Moralbewusstsein eines jeden Menschen. Die Aufklärung benötigt laut Kant keine besonderen Kenntnisse oder Fertigkeiten, sondern lediglich eine Fähigkeit und Bereitschaft, die jedem Menschen offenstehen: der Mut sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Wie würde Kant heutige Spaltungstendenzen in der Gesellschaft (Populismus, Rechtsextremismus, Linksextremismus etc.) bewerten und wie würde er diesen konstruktiv begegnen?

„Erlauben Sie mir, mit Bedenken gegen die Frage zu beginnen: Wir sollten Kant, einen der größten Denker des Abendlandes, nicht zu einem Ratgeber für Anfragen des Zeitgeistes herabstufen. Lieber sollten wir das Provokationspotential seines Denkens aufsuchen und dann ernst nehmen. Kant ist ein Philosoph, stellt als solcher allgemein menschlich relevante Fragen und sucht mit Hilfe ebenso kultur- und epochenübergreifender Begriffe und Argumente allgemein überzeugende Antworten.

Wenn wir ihn aber zu Spaltungstendenzen in der Gesellschaft befragen, wird er – gemäß seiner weltoffenen Neugier und dem Begriff richterlicher Kritik – eine umfassendere Diagnose einfordern. Da die Gesellschaft noch nicht vollends gespalten ist, sind als erstes zusätzlich die Gegentendenzen zu erforschen: Welche Faktoren halten die Gesellschaft denn doch noch zusammen? Und zweitens: Wie kann man diese stärken?

Sodann wird er nach präzisen Begriffen fragen: Was genau ist mit Populismus gemeint, außer dass es sich um missliebige Ansichten und Gruppierungen handelt? Beim Rechts- und Linksextremismus wird er fragen, was genau kritikwürdig ist, tatsächlich die Extremposition oder eher nicht die Gewaltbereitschaft und die mangelnde Toleranz?

Eine konstruktive Antwort in Kantischem Geist: Man betreibe Aufklärung, fordere den Mut zum Selberdenken ein, breite die Fakten zu den strittigen Themenfeldern aus, nehme Sorgen und Ängste ernst, stelle alternative Diagnosen und Therapievorschläge vor und bewerte sie im Namen unstrittiger Rechts- und Gerechtigkeitsvorgaben. Und verliere nicht das Vertrauen in die noch immer ziemlich zuverlässige rechtsstaatliche Demokratie.“

Imperialistische Bestrebungen und autoritäre Formen der Machtausübung feiern ja gerade ein großes Comeback.

Die von Kant angestrebte Weltfriedensordnung scheint dabei immer mehr in weite Ferne zu rücken. Haben Sie noch Hoffnung, dass wir mit Kant oder über ihn hinaus, d.h. mit anderen philosophischen Mitteln, wieder zu einem „ewigen Frieden“ gelangen können? Oder müssen wir uns in Zukunft wieder mit einem Gleichgewicht oder Vakuum des Schreckens abfinden, das entsteht, wenn mehrere feindlich gesinnte Machtblöcke nebeneinander (und mehr schlecht als recht) koexistieren?

„Durch den vorbehaltlosen, insofern ewigen Frieden wird die Gewalt als Mittel internationaler Auseinandersetzungen überwunden. Dazu gibt es vom Standpunkt der Rechtsmoral bzw. der entsprechenden reinen praktischen Vernunft keine Alternative: Die Gewalt ist, wie Kant in seiner Friedensschrift erklärt, als Rechtsgang ausnahmslos verboten und der vorbehaltlose Friede ebenso uneingeschränkt geboten. Kant hat aber nicht nur die entsprechende globale Rechtsgemeinschaft, übrigens keine homogene Weltstaatlichkeit, sondern   nur eine föderale und subsidiäre Weltordnung / Weltrepublik, für geboten erklärt. Er war wirklichkeitsoffen genug zu sehen, dass viele Mächte – heute nicht nur Großmächte! – nicht zu den nötigen Souveränitätsverzichten bereit sind. Für diese Situation empfiehlt er eine zweitbeste Lösung, den Völkerbund, dem nach und nach immer mehr friedensbereite Staaten beitreten werden. Hinsichtlich der anderen Staaten muss es nicht nur, auch heute nicht ausschließlich Beziehungen des Schreckens geben. Glücklicherweise gibt es auch heute in vielen Bereichen wie der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und dem Sport recht friedliche Kooperationen. Auch das immer dichtere Völkerrecht ist nicht völlig wirkungslos. Im Übrigen gibt es keine philosophischen Mittel zum Frieden, wenn man nicht die Aufklärung als ein kleines Mittel bezeichnen will. Die Philosophie macht nur, aber auch immerhin Vorschläge. Und weder sie noch der kluge Bürger gibt die Hoffnung auf einen vorbehaltlosen Frieden auf. Wir selbst haben ihn schon drei Generationen genießen können und leben immer noch außerhalb aller Kriegszonen.“

Frieden ist bekanntlich nicht ohne Freiheit und Freiheit nicht ohne Frieden zu denken und zu haben.

Was würde Kant uns Heutigen, die wir inmitten multipler Krisen stehen, für ein zukünftiges Leben in Frieden und Freiheit mit auf den Weg geben?  

„Die Freiheit, das wird niemand bestreiten, hat für den Menschen generell und für die Moderne im Besonderen eine konstitutive Bedeutung. Trotzdem leuchtet der erste Satz in dieser Frage ohne eine Erläuterung nicht ein: Welche Freiheit braucht man für den vorbehaltlosen Frieden? Und: Warum soll man nicht auch in friedlosen Zeiten moralisch frei handeln können? – Ich bleibe dabei, Kant nicht als Ratgeber für Gegenwartsprobleme zu lesen, will mich aber nicht einer Antwort entziehen: Für ein zuverlässig friedvolles Leben baue man wie überall auf Aufklärung, mit ihr auf einen offenen Blick auf die facettenreichere, zwar von etlichen Krisen geschüttelte, aber nicht allerorts krisenhafte Welt und auf eine vielseitige, jeder Art von Zensur freie, auch die hoffnungsweckenden Phänomene nicht verdrängenden Öffentlichkeit. Des Näheren baue man auf das Recht: Im Einzelstaat auf den hier alternativlos legitimen demokratischen Verfassungsstaat, zusätzlich auf eine engagierte Bürgergesellschaft. Und zwischen den Staaten setze man sich für ein zunehmend umfassendes und dichtes Völkerrecht ein. Man erweitere die politische, überdies die wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit sowie die im Sport. Nicht zuletzt stärke man die Ansätze einer internationalen Gerichtsbarkeit, stärke die Sanktionsmöglichkeiten, einschließlich der wirksamen Ächtung von Terrorismus, von Völkerrechtsverstößen und scheue dabei nicht die Mühen internationaler Politik: das geduldige Bohren der sprichwörtlich dicken Bretter.“

Kant war eine zutiefst demokratische Persönlichkeit.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe

Otfried Höffe ist einer der profiliertesten Kantkenner unserer Zeit. Er lehrte politische Philosophie u.a. in Freiburg in der Schweiz, Zürich, Sankt Gallen und zuletzt viele Jahre lang in Tübingen, wo er als inzwischen emeritierter Professor noch die entsprechende Forschungsstelle leitet. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Nationalakademie Leopoldina und Professor für praktische Philosophie an der Tsinghua Universität in Peking. Otfried Höffe ist im In- und Ausland für seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Politischen Philosophie, Moralphilosophie und angewandten Ethik sowie zu Aristoteles und Kant bekannt. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt; bei Karl Alber erschienen zuletzt: „Für ein Europa der Bürger! – Den Europa-Diskurs erneuern“ und „Gerechtigkeit denken – John Rawls´ epochales Werk der politischen Philosophie“. Jüngst erschien zudem „Der Weltbürger aus Königsberg. Kant heute“ im Matrix Verlag.