Erweiterte Ansprüche der Fahrzeugkäufer im „Dieselskandal“?

26.04.2023

Erweiterte Ansprüche der Fahrzeugkäufer im „Dieselskandal“?

Zeitschrift für Product Compliance

Beitrag von Dr. Martin Zurlinden

Der EuGH hat sich am 21.3.2023 in einem mit Spannung erwarteten Urteil (C‑100/21) zu der Frage geäußert, ob das grundsätzliche Verbot von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen in Kraftfahrzeugen verringern, und ob andere in diesem Zusammenhang relevante unionsrechtliche Vorschriften dazu bestimmt sind, die individuellen Interessen des Fahrzeugerwerbers zu schützen. Von Bedeutung ist dies für die Frage, ob dem Erwerber ein auf Kaufpreiserstattung gerichteter deliktischer Anspruch gegen den Fahrzeughersteller – entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BGH – auch dann zustehen kann, wenn die engen Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung gemäß § 826 BGB, zu denen ein bewusster Rechtsverstoß des Herstellers gehört, nicht erfüllt sind.

Ausgangslage

Dem Urteil des EuGH liegt ein Vorabentscheidungsersuchen des LG Ravensburg gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zugrunde. Die „Dieselsenate“ des BGH haben auf ein solches Ersuchen verzichtet, da sie übereinstimmend der Ansicht waren, es sei hinreichend klar, dass die als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB diskutierten, unionsrechtlich geprägten Vorschriften nicht das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der Fahrzeugkäufer schützen sollen.

Entscheidung des EuGH und Einordnung

Der EuGH hat eine individualschützende Intention der fraglichen Normen bejaht. Das widerspricht indes noch nicht der Auffassung des BGH, der eine solche Intention keineswegs generell verneint hat, sondern nur im Hinblick auf den Fahrzeugerwerb als solchen, der in den „Dieselfällen“ in aller Regel als Schaden geltend gemacht wird. Ob der EuGH diesen speziellen Punkt anders beurteilt oder gar einen deliktischen Kaufpreiserstattungsanspruch des lediglich fahrlässig geschädigten Fahrzeugerwerbers als unionsrechtlich geboten ansieht, wird aus dem Urteil vom 21.3.2023 nicht recht deutlich, da der EuGH die differenzierte Schutzzweckprüfung des BGH, der den „ungewollten“ Fahrzeugerwerb und weitere mögliche Schäden gesondert betrachtet, nicht aufgegriffen hat.

Ein weiterer Gegenstand des Urteils ist die Frage, ob und inwieweit die Fahrzeugnutzung als wirtschaftlicher Vorteil von einem etwaigen Kaufpreiserstattungsanspruch des Erwerbers abzuziehen ist. Der BGH bejaht die Vorteilsanrechnung und hält auch eine vollständige Aufzehrung des Anspruchs für möglich. Der EuGH hat sich dieser Rechtsprechung nicht entgegengestellt.

Fazit

Entgegen einer verbreiteten medialen Darstellung ist ein Widerspruch zwischen der Entscheidung des EuGH und der bisherigen Rechtsprechung des BGH nicht eindeutig auszumachen. Maßgeblich für die deutsche Rechtspraxis wird sein, welche Schlüsse der BGH aus dem Urteil vom 21.3.2023 zieht. Insoweit ist insbesondere auf einen Verhandlungstermin am 8.5.2023 zu achten, der im Verfahren VIa ZR 335/21 anberaumt ist. Der VIa. Zivilsenat des BGH hatte bereits im vergangenen Sommer angekündigt, etwaige Auswirkungen der erwarteten EuGH-Entscheidung auf das deutsche Haftungsrecht im besagten Verfahren erörtern zu wollen.


Dr. Martin Zurlinden ist Richter am Oberlandesgericht Hamm. Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine Kurzfassung der Urteilsanmerkung des Autors, die in Heft 3/2023 der ZfPC erscheinen wird. Die ungekürzte Anmerkung kann schon jetzt im ZfPC-Layout als Pre-Opening kostenfrei abgerufen werden.