Europäisches Produktrecht im Umbruch – NLF im Stresstest

15.09.2025

Europäisches Produktrecht im Umbruch – NLF im Stresstest

Zu sehen ist der Header zum Thema Product Compliance mit dem Autor Sebastian Jokusch

von Sebastian Jockusch

Die Europäische Union erlebt derzeit eine in dieser Form beispiellose Reformwelle ihres Binnenmarktrechts. Mit den sogenannten Omnibus-Verfahren verfolgt die Kommission seit Anfang 2025 das Ziel, die gewachsene Produktregulierung tiefgreifend zu vereinfachen, digitalisieren und von Bürokratie zu entlasten. Diese Dynamik zwingt dazu, auch das Fundament der europäischen Produktregulierung, den New Legislative Framework (NLF), kritisch zu überprüfen und an die Erfordernisse der Gegenwart anzupassen.

Zunehmende Produktgefahren bei smarten Produkten nach dem Inverkehrbringen

Bei Software und Softwareprodukten (smarte Produkte) ist eine abschließend sichere Entwicklung „am Reißbrett“ kaum möglich. Moderne Software ist hochkomplex und deshalb fehleranfällig. Sie kann nicht auf jedes potenzielle Einsatzszenario wirtschaftlich sinnvoll getestet werden und ist von einer Vielzahl von Umweltvariablen abhängig, die sich im Laufe der Zeit verändern können. So führt die Vernetzung mit anderen Systemen zu nicht vollumfänglich abschätzbaren Kombinationsrisiken und Fehlfunktionen ergeben sich häufig erst aus dem Zusammenspiel der einzelnen Systeme. Zudem werden Schwachstellen der Software oft erst im Laufe der Zeit bekannt und Bedrohungslagen ändern sich fortlaufend.

NLF im Stresstest

Seit seiner Einführung 2008 ist der NLF das horizontale Koordinationsmodell für Produktsicherheit, Konformitätsbewertung und Marktüberwachung. Doch die wachsende Fragmentierung vertikaler Rechtsakte, die schleppende Digitalisierung und die zunehmende Dynamik sektorspezifischer Vorgaben haben zu einem Spannungsfeld geführt: zwischen der Notwendigkeit klarer, handhabbarer Vorschriften und der Realität einer kaum noch überschaubaren Vielzahl an Regulierungen.
Die Überarbeitung des NLF ist daher kein optionales Update, sondern eine notwendige Weiterentwicklung, um Rechtsklarheit, Systemkohärenz und Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarktes langfristig zu sichern.

Marktüberwachung als neuralgischer Punkt

Die Marktüberwachungsverordnung (EU) 2019/1020 ist bislang weder vollständig noch einheitlich in den Mitgliedstaaten praktisch umgesetzt. Insbesondere der Onlinehandel hat Schwächen offengelegt, die ein fragmentiertes, föderal organisiertes System kaum aufzufangen vermag. Eine „Marktüberwachung 2.0“ muss daher:
 

  • auf einheitlichen Legaldefinitionen und Regeln basieren
  • digitale Schnittstellen zwischen Zoll, Behörden und Datenbanken schaffen
  • einen Digitalen Produktpass (DPP) als verbindliches, kohärentes Instrument einführen
  • für Wettbewerbsgleichheit zwischen EU- und Nicht-EU-Akteuren sorgen
    • Nur durch eine abgestimmte, europäisch koordinierte Marktaufsicht lässt sich verhindern, dass Non-Compliance dem Zufall überlassen bleibt.

      Standardisierung neu justieren

      Auch die technische Normung droht zunehmend zu einem Flaschenhals zu werden. Die geplante Revision der Normungsverordnung (EU) Nr. 1025/2012 und die Erfahrungen aus der derzeit noch gültigen Bauprodukteverordnung (EU) Nr. 305/2011 aber auch der Medizinprodukteverordnung (EU) 2017/745 zeigen, dass schnellere und systemische Normungsverfahren notwendig sind, um Innovation, Resilienz und den digitalen sowie grünen Wandel zu begleiten. Hier gilt es, Verzögerungen im Normungsprozess abzubauen und stärker auf digitale Zusammenarbeit zu setzen.

      Rechtskonformität im digitalen Binnenmarkt

      Papierpflichten, Mehrsprachigkeitsvorgaben und starre Kennzeichnungsvorschriften sind Relikte einer analogen Zeit. Die Zukunft liegt in einer medienneutralen, digitalen Bereitstellung von Konformitätserklärungen, Sicherheits- und Gebrauchshinweisen sowie Rückverfolgbarkeitsdaten – verknüpft mit einem interoperablen Digitalen Produktpass. Dies ist nicht nur eine Entlastung für Unternehmen, sondern auch Voraussetzung für effiziente Marktaufsicht und informierte Verbraucherentscheidungen.

      Fahrplan für Stakeholder

      Die Reformwelle birgt Chancen, aber auch Risiken der Überforderung. Notwendig ist daher ein klarer Fahrplan, der sowohl Wirtschaftsakteure als auch Behörden (Marktaufsicht und Zoll) befähigt, die neuen Anforderungen kohärent umzusetzen. Hierzu gehören:
       

      • EU-weit abgestimmte Informations- und Trainingsangebote
      • Mentorship-Programme für KMU
      • branchenübergreifende Austauschplattformen
      • Public Private Partnership (PPP) Modelle zur praxisnahen Zusammenarbeit von Wirtschaft und Verwaltung

      Fazit

      Der europäische Binnenmarkt steht an einem kritischen Wendepunkt: Ohne eine konsequente Überarbeitung des NLF und eine Stärkung der Marktüberwachung droht das Fundament zu erodieren. Die aktuelle Omnibus-Welle bietet eine einmalige Gelegenheit, das Produktrecht vom Nebeneinander fragmentierter Vorschriften zu einem kohärenten System aus einem Guss zu entwickeln. Digitalisierung, Entbürokratisierung und Harmonisierung sind dabei nicht bloß politische Schlagworte, sondern zentrale Standortfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit Europas im globalen Kontext. Bleibt zu hoffen, dass sich sämtliche Stakeholder (vom Mitarbeiter in Unternehmen bis hin zur Kommissions-Präsidentin) der heiklen Situation bewusst sind, mithin sich im Rahmen der jeweiligen Beteiligungsmöglichkeiten konstruktiv im offenen Dialog einbringen.

       

       

      Sebastian Jockusch, Dipl.-Verwaltungswirt (FH), ist Geschäftsführer der fox compliance GmbH, einem Consulting Unternehmen, welches zu Herausforderungen in der Product Compliance Praxis mit Schwerpunkt zu Verbraucherprodukten innerhalb des EU-Binnenmarktes und Europa berät. Ein Editorial zu diesem Thema erscheint in der Zeitschrift ZfPC 5/2025, ein weiterführender Fachartikel in der Beilage zum „Product Compliance Dialog 2025“ mit der ZfPC 6/2025.